# taz.de -- Joachim Gauck beim Kirchentag 2015: Streitlustig, elegant, beherzt | |
> Joachim Gauck und der Soziologe Hartmut Rosa begegnen sich in einer | |
> Debatte auf Augenhöhe. Und der Präsident wird auch politisch. | |
Bild: Cool auf der Bühne: Joachim Gauck in Stuttgart. | |
STUTTGART taz | Ältere erinnern sich auf Anhieb: Richard von Weizsäcker | |
oder Johannes Rau – Bundespräsidenten und kirchenpolitisch der | |
evangelischen Szene verbunden, äußerten auf Kirchentagen immer allenfalls | |
freundliche Sätze. Von anderem Kaliber ist hörbar ihr inzwischen | |
amtierender Kollege Joachim Gauck. Mit dem Soziologieprofessor Hartmut Rosa | |
aus Jena debattierte er zwei Stunden auf dem Panel „Gutes Leben. Kluges | |
Leben“ in der rappelüberfüllten Hanns-Martin-Schleyer-Halle von Stuttgart. | |
Was für eine gelungene Konstellation: Hier der populärste Stichwortgeber | |
der alternativen, linken und christlichen Milieus, der Mann, der sich das | |
Wort „Entschleunigung“ zur smalltalkfähigen Chiffre ausgedacht hat. Der | |
Mann also, der für eine Zeitkritik steht, die später sein Kontrahant, | |
Bundespräsident Gauck, als aus der Romantik des Jahres 1855 stammend leicht | |
bespöttelte. | |
30 Minuten entwickelte Rosa die Greatest Hits der linken Klingeltöne zur | |
aktuellen Lage in der Welt. Die Welt beschleunige sich, alles werde | |
schlimmer, der Zwang zum ökonomischen Wachstum mache ein gutes Leben | |
unmöglich; wende man sich nicht gegen die drohende Misere drohe Barbarei. | |
Man nehme nur die Flüchtlingsschicksale, den Klimawandel oder die | |
Massentierhaltung. Nachhaltigkeit, Glücksindex, „die Angst, abgehängt zu | |
werden“ und „Es ist wichtig, dass uns nicht die Gier antreibt“ – es war | |
alles dabei, was so geplappert wird in gutgesinnten Zirkeln. | |
Gauck war nicht zum Co-Referat geladen. Mit umgehängtem roten | |
Kirchentagsschal saß er auf das coolste auf der Bühne und nutzte den | |
ältesten rhetorischen Trick seit Einführung des Dialogs vor aller | |
Öffentlichkeit: Er lobte Hartmut Rosa inständig. Nix war es da mit sämiger | |
Präsidialität. Der Präsident war offenbar von tiefer Streitlust erfüllt – | |
sehr zur Unterhaltsamkeit des Publikums. „Lieber Herr Professor ...“ sagte | |
er mehrmals zum Auftakt seiner Einrede. Sagte er, dass er sich ihm nah | |
fühle, wie ein „Bruder“. | |
Aber zugleich ließ er es nicht bei Floskeln wie „Finde ich auch/Ja, | |
genau/Das sehe ich wie Sie etc. pp“ bewenden, sondern darüber hinaus ging: | |
Er lobte den „Bruder Rosa“ für seine Empfindsamkeit in der Zeitdiagnose, | |
gab ihm aber tüchtig Kontra. Sagte, dass die Kultivierung der | |
Vergeblichkeit eine von Spießbürgern sei; dass es nichts nützt, das Heute | |
so zu analysieren, als gäbe es keine „Resonanzräume“, in denen politische | |
Besserungen möglich gemacht werden. Das Gespräch beider war ein | |
Lehrbeispiel für einen Dialog auf Augenhöhe – sie schenkten sich | |
argumentativ nichts. | |
## Kritik am pessimistischen Ton | |
Rosa glänzte, wenn man so will, mit dem Vorschlag, man solle das | |
Lebensglück, gesellschaftlich wie individuell, nicht mehr an ökonomischen | |
Markern festmachen, sondern an leuchtenden Augen der Menschen: einen | |
Leuchtende-Augen-Index für das Vorhandensein von Glück. | |
Gauck erwiderte kühl, auch Zeitanalytisches möge doch von Politischem nicht | |
Glück verlangen, sondern die Ermöglichung von Recht für alle. Denn das | |
Recht sei vor allem eines für Arme, denn Reiche seien auf allgemeingültige | |
Gerechtigkeitssysteme im Recht letztlich nicht angewiesen. Überhaupt störe | |
ihn der Klang der Impulse Rosas – dieser pessimistische Ton, diese | |
antipolitische Haltung, die nie etwas zum Gelingen bringen will, sondern | |
nur Recht zu haben beansprucht. | |
Einmal wurde der Bundespräsident gar aktuell politisch. Das war auf die | |
Frage der Moderatorin Christiane Florin, wie er es denn mit der „Ehe für | |
alle“ sehe. Das war überraschend und angenehm vorlaut, denn, klar, der | |
Bundespräsident würde natürlich nicht antworten: „Hey, krass, finde ich | |
super.“ Was er aber ernsthaft ausführte, war vielsagend genug. | |
Gauck nämlich antwortete sehr direkt, thematisch verfehlt, aber in der | |
Sache konzis: Er dürfe und wolle sich nicht in die konkrete Politik | |
einmischen, gleichwohl: Er habe in seinem Leben mehrere Phasen seines | |
Glaubens durchgemacht, heute nehme er es als Geschenk, dass dieser Glaube | |
„und mein unbedingtes Ja zur Aufklärung“ zueinander passten. „Aus dem Gr… | |
bin ich für all das, was Menschen befreit und von Entfremdung löst.“ | |
Fröhlicher, eleganter und beherzter ist ein Ja zur Ehe für alle bislang | |
nicht formuliert worden. | |
Am Ende musste man zweimal hingucken: Wer von beiden war eigentlich der | |
Jüngere, Erfrischendere, Kraftvollere? Rosa, der sich trotz seiner 49 Jahre | |
wie ein Alter anhörte, der eine bittere Bilanz der politischen Lage zog? | |
Oder Gauck, 75 Jahre, der sich streckenweise anhörte wie ein gelassen | |
gewordener Aufmüpfiger, der dem Werden einer besseren Welt immer noch mit | |
einem „Da mache ich mit!“ begegnet – und offenbar keinen Mangel empfindet | |
an „Resonanzräumen“ (Rosas momentane Lieblingsvokabel), in denen dieses zur | |
Geltung kommen kann. Streitlustiger war ein Bundespräsident auf | |
Kirchentagen nie. | |
4 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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