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# taz.de -- Evangelischer Kirchentag: Selbst gebastelte Privatreligion
> Zehntausende treten jedes Jahr aus der Kirche aus – und das nicht nur, um
> die Steuer zu sparen. Was passiert danach mit ihrem Glauben?
Bild: Dieser Gottesdienst könnte besser besucht sein.
Anna Dietrich war 32 Jahre lang Mitglied in der evangelischen Kirche, wurde
als Baby getauft und hat noch als Kind regelmäßig gebetet. Als sie
vergangenes Jahr eine neue Arbeit aufnahm, trat die gebürtige Husumerin aus
der Kirche aus. Als Sozialpädagogin mit einer 75-Prozent-Stelle und
schmalem Gehalt wollte die junge Frau aus Hamburg nicht auch noch die
Kirchensteuer bezahlen „Ich habe schon überlegt, wo kann ich noch was
rausholen“, sagt Anna Dietrich. Rund 280 Euro im Jahr spart sie durch den
Kirchenaustritt. Vom Christentum hat sie sich damit aber nicht
verabschiedet „Ich brauche die Kirche nicht, um meinen Glauben zu leben“,
sagt Anna Dietrich.
Die Kirchen in Deutschland verlieren pro Jahr Zehntausende Mitglieder. 2013
traten rund 176.600 Menschen aus der evangelischen Kirche aus, 0,8 Prozent
aller Kirchenmitglieder. Dies waren Ende 2013 noch rund 23 Millionen
Menschen. Zum Vergleich: Die Zahl der Mitglieder ging im gleichen Zeitraum
um knapp 140.000 Mitglieder zurück, allein weil mehr Protestanten beerdigt
als Menschen evangelisch getauft wurden.
Was passiert mit dem Glauben der Menschen, wenn sie die Kirche verlassen
haben? Glauben sie schlicht an Gott ohne die Kirche, glauben sie an etwas
anderes oder an nichts mehr?
Der Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen
Fakultät der Universität Leipzig, Gert Pickel, geht davon aus, dass die
Menschen schon vor ihrem Austritt den Glauben an Gott verloren haben. „Es
gibt viele Gründe, warum Menschen aus der Kirche austreten, aber einer der
zentralsten im europäischen Rahmen ist, dass die Menschen nicht mehr
religiös sind“, sagt Pickel.
## Wenig Platz für Eigenes
Vor dem Kirchenaustritt stehe eine Entwicklung über Jahrzehnte. „Bei dem
Übergang der Generationen, da bröckelt es“, sagt der Soziologe. Die Kinder
erzählten, die Eltern hätten sich selbst als religiös bezeichnet, aber
nicht danach gelebt. Für die Kinder verliere der Glaube dann weiter an
Bedeutung. Wenn dann noch mit Mitte 20 der erste Job dazukommt, das erste
Mal Kirchensteuer gezahlt werden muss, kommen die Menschen ins Grübeln.
„Man tritt nicht allein wegen der Kirchensteuer aus“, sagt Pickel. „Dem
geht voran, dass man weniger anfangen kann mit der Kirche.“ Andersherum
gilt: Wer religiös ist, tritt nicht wegen der Kirchensteuer aus.
Auch Anna Dietrich stört an der Kirche nicht nur die Kirchensteuer. Sie
sagt: „Ich glaube nicht an das Kirchliche.“ Sie lehne die starren Vorgaben
ab, die festen Abläufe im Gottesdienst, die Lieder. „Da ist so wenig Platz
für Eigenes“, sagt sie.
Während die Religiosität bei den Menschen nachlässt, sagt Pickel, gewinnen
weltlichere Dinge an Bedeutung. „Die Menschen sagen: Ich gehe ins
Bodybuilding-Studio, darauf lasse ich nichts kommen, mein Sport ist mir
heilig“, sagt Pickel. Sie glaubten an eine Sache, hielten an Ritualen fest,
pflegten diese auch in einer festen Gemeinschaft – aber ohne Gott. Manche
engagierten sich für arme Menschen in Deutschland bei der Tafel, manche für
arme Menschen in anderen Ländern bei Amnesty International. „Gut sein kann
ich auch bei Greenpeace“, sagt Pickel. Um das Prinzip der Nächstenliebe zu
pflegen, muss man nicht Mitglied der Kirche sein.
Für andere Wissenschaftler verändert der Kirchenaustritt an sich den
Glauben der Menschen: „Der Austritt bedeutet schon eine Schwelle“, sagt
Wolfgang Kaschuba, emeritierter Professor für Europäische Ethnologie an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Die inneren Monologe, die Gespräche mit
anderen über ein Verlassen der Kirchengemeinschaft, die Frage, wer
registriert den Austritt, führten dazu, dass die Menschen über ihre
Gläubigkeit nachdenken würden. „Selbst wenn sich der Alltag vorher und
nachher kaum unterscheidet, verändert sich dennoch das religiöse
Selbstbild.“
## Innerer Rückzugsraum
Für Kaschuba nehmen sich gerade junge Leute Druck durch den Austritt aus
der Kirche. Sie müssten sich nicht mehr mit Normen auseinandersetzen, die
nah am schlechten Gewissen gebaut seien. „Der Glaube wird imaginärer,
offener“, sagt Kaschuba. „Das Religiöse bleibt eine Art innerer
Rückzugsraum, der dadurch vielleicht seltener genutzt wird, aber zugleich
an- und abschaltbar bleibt.“ Es könne eine „Privatreligion“ entstehen, d…
sich jeder selbst bastelt.
Kaschuba ist selbst mit 18 Jahren aus der Kirche ausgetreten. „Ich habe
sehr bewusst und anti-religiös gehandelt“, sagt er über seine damalige
Entscheidung. „Ich war sehr links und sehr weit von normativen Konventionen
weg.“ Der junge Mann steckte damals mitten in der 68er Bewegung, die Kirche
als verknöcherte, intolerante Institution ablehnte. Außerdem wollte er
keine Kirchensteuer zahlen, sagt er.
Für den Religionssoziologen Michael N. Ebertz, Professor an der
Katholischen Hochschule Freiburg, hängt die Weiterentwicklung des Glaubens
mit dem Grund des Kirchenaustritts zusammen. „Es gibt nicht den Austreter
oder die Austreterin, sondern eine Vielfalt von Austrittswegen“, sagt
Ebertz. Ein Muster seien die Enttäuschten, die engagiert seien in ihrer
Gemeinde. Diese Gruppe fühle sich aber nicht wertgeschätzt, weil sie nicht
zum jährlichen Dankesabend der Gemeinde eingeladen werde, und trete aus.
Eine andere Gruppe seien die, die als Katholik über ihre Familie oder
Freunde Kontakt mit Protestanten bekämen. Diese besuchten dann in der
evangelischen Kirche den Gottesdienst, fühlten sich dort wohl, träfen neue
Menschen und träten irgendwann von der katholischen zur evangelischen
Kirche über.
Eine dritte Gruppe engagiere sich sehr für den Glauben und setze sich
intensiv damit auseinander. „Wenn die dann auf Widersprüche stoßen, etwas
kognitive oder intellektuelle, dann treten die aus einem Überengagement
heraus aus“, sagt Ebertz.
## Vom Glauben abgefallen
So könne es sein, dass sich einer nach dem Kirchenaustritt vom Glauben
abwende. Ein anderer glaube in der evangelischen Kirche weiter an Gott.
Ebertz sagt: „Der Austritt aus der Kirche ist nicht automatisch eine
Distanzierung vom Christentum und umgekehrt: Ein Verbleiben in der Kirche
heißt noch lange nicht, dass man christlich lebt.“ Viele Kirchenmitglieder
seien nicht christgläubig. Sie lehnten den Glauben ab, dass Christus aus
Gott hervorgegangen ist.
Für Wilhelm Gräb, Professor für Praktische Theologie an der
Humboldt-Universität zu Berlin, treten die wenigsten Menschen aus der
Kirche aus, weil sie vom Glauben abgefallen sind. „Meine These ist, dass
die Leute ein religiöses Sinnbedürfnis haben und das auch zu erkennen
geben“, sagt Gräb. Viele seien lediglich mit der Kirche unzufrieden,
fühlten sich von den Angeboten nicht mehr angesprochen. Es gebe nicht mehr
den einen von der Kirche definierten Glauben.
„Die Menschen sind in ihrem Glauben autonom geworden“, sagt Gräb.
Allerdings fasst er auch den Begriff weiter: „Religion ist das, woran
Menschen in letzter Sicht ihr Herz hängen.“ Der Grund, morgens aus dem Bett
zu kommen und zur Arbeit zu gehen – ein Glaube, dass die Welt und das
eigene Dasein darin eine Bedeutung haben.
„Ich glaube an etwas, aber es muss nicht unbedingt Gott sein“, sagt Anna
Dietrich aus Hamburg. „Ich glaube an mehr als die Evolution, an eine
Seele.“ Sollte sie später Kinder haben, will sie diese wohl nicht taufen
lassen. Sie will es ihnen überlassen, ob sie sich in der Kirche
wiederfinden oder nicht.
4 Jun 2015
## AUTOREN
Stefanie Järkel
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