# taz.de -- Evangelischer Kirchentag: Wider die Sprachnot auf der Kanzel | |
> Wie PastorInnen ihre Botschaft besser an die Kirchgänger bringen, lernen | |
> sie beim Predigt Slam samt Workshop in Wittenberg. | |
Bild: Kanzel in der Berliner St.Marienkirche. Kommt auch von hier Gestammel? | |
WITTENBERG taz | „Mit alles, aber ohne scharf“ bestellt der Typ am | |
Dönerstand und wer zufällig daneben steht, hat sein Predigtthema schon | |
gefunden. Jedenfalls ist das bei Pfarrer Holger Pyka aus Köln so. Er steht | |
jetzt nicht auf der Kanzel sondern auf einer Kleinkunstbühne in Wittenberg. | |
Vielleicht ist er ein Naturtalent, sicher hat er einen guten Startplatz, | |
auf jeden Fall hat er einen guten Text beim dritten Predigt Slam im | |
Clack-Theater. | |
„Mit alles, aber ohne scharf!“ wiederholt Pyka mit einem Grinsen. „Was f�… | |
ein Bild für unsere Welt. Mit alles, aber nichts, was den Gaumen irritieren | |
oder vielleicht zu Tränen rühren könnte. So wie ein Schlager von Helene | |
Fischer“, sinniert Pyka. „So ganz ohne Ecken und Kanten. Oder so wie die | |
Predigt vom letzten Sonntag mit gelehrten Exkursen und vielen | |
‚Ein-Stück-weit’ und ‚irgendwie’. Die letzten Worte haucht Pyka und gr… | |
dabei affektiert in die Luft. | |
Kathrin Oxen vom Zentrum für evangelische Predigtkultur, die unten im | |
Publikum sitzt, lacht besonders laut. Präziser könnte sie die Aufgabe auch | |
nicht beschreiben: die Predigt, das Herz des protestantischen | |
Gottesdienstes, wieder unter die Menschen bringen, ohne ein | |
„Ein-Stück-weit“ und „irgendwie“. So wie es Pyka, Jahrgang 1982, gerade | |
vormacht, Prediger und Rampensau in einem. „Mit alles, aber ohne scharf. | |
Der Wunsch nach einem Leben mit ohne“ ruft Pyka ins Mikro. „Ein Leben ohne | |
Scheiße, ohne Schuld und ohne Sterben“, fährt er fort. Pykas Vision: Dass | |
der Dönermann den Typen langsam über den Tresen zieht und zuflüstert: | |
„Sorry, so was gibt’s hier nicht!“ Applaus. | |
„Was passiert, wenn man versucht, eine Predigt Poesie werden zu lassen?“, | |
fragt das Zentrum für Predigtkultur in seinem Jahresprogramm, das den | |
Predigt Slam samt Workshop organisiert hat. Es entsteht eine unterhaltsame | |
Mischung aus Kabarett und freier Predigt vor einer Gemeinde mit Wein und | |
Bier. | |
Die 50 Besucher küren Pyka zum Sieger. Und auch die neun anderen, allesamt | |
jungen Predigt-Performer – es sind vor allem Pastorinnen und Vikarinnen – | |
stehen auf der Bühne und wirken erleichtert, der Predigtrede so frischen | |
Geist eingehaucht zu haben. | |
## Martin Luther als Stammgast | |
„Es bildet sich gerade eine kleine Predigt-Slammer-Szene“, hatte Kathrin | |
Oxen am Nachmittag erzählt. Manche der Slammer sind schon Stammgäste hier. | |
Das Zentrum für evangelische Predigtkultur ist in den Cranach-Höfen am | |
Markt untergekommen, ein verwinkelter Renaissancekomplex, in dem der Maler | |
Lucas Cranach Wohnung und Werkstatt hatte. Martin Luther ist hier ein und | |
ausgegangen. Quasi geweihter Boden für jeden Protestanten, wie die ganze | |
kleine Stadt Wittenberg. Wenn man die Predigt reformieren will, kein | |
schlechter Ort. Das kleine Büro hinter hohen Steintreppen residiert seit | |
2009 hier. Oxen selbst, Jahrgang 1972, predigte acht Jahre lang als | |
Pfarrerin in Mecklenburg, bevor sie 2012 nach Wittenberg kam. | |
Die Bereitschaft, über die eigene Predigt zu reden, sei unter Pastorinnen | |
und Pastoren schwach ausgeprägt, erzählt Oxen. „Da redet man dann eher über | |
Eheprobleme.“ Wie ein Tabu werde das behandelt, was der Pastor sonntags | |
öffentlich verkündet – ein merkwürdiger Kontrast. Der sich auch darin | |
ausdrückt, dass viele, bevor sie hier zum „Coaching“ erscheinen, nicht | |
bereit sind, eine Predigt einzuschicken. | |
Am schweigsamsten erlebt Oxen die Runden beim Thema Bestattungspredigt. | |
Gerade bei der christlichen Auferstehung verlieren die kirchlichen | |
Amtsträger ihre Sprache. | |
Warum? „Als Pfarrer muss ich ständig über Dinge reden, über die ich nicht | |
reden kann“, beschreibt Oxen das Problem. Diese Sprachnot drücke sich in | |
Floskeln aus. „Wir dürfen hoffen“ oder „Wir können glauben“ seien sol… | |
Hülsen. Oder eben „ein Stück weit“ und „irgendwie“. Sprachnot als | |
Alarmsignal. Dies habe die EKD, der Zusammenschluss aller evangelischen | |
Kirchen in Deutschland, veranlasst, dieses Zentrum zu gründen. Denn wie | |
soll man verkündigen, wenn die Prediger nach Worten ringen? | |
## Lehrstunde am Dönerstand | |
„Das Schlimmste sind die verpassten Chancen“, hatte Oxen in ihrem Büro | |
gesagt und sie wiederholt es jetzt hier im Lutherhotel vor einem | |
Pfarrkonvent, den sie heute coachen will. Aber was ist eine Chance? | |
Offenbar der Besuch am Dönerstand. | |
Und wie steht es um das Attentat auf Charlie Hebdo? Jetzt wird es munter | |
unter den 27 Pastorinnen und Pastoren. Sie waren am Morgen, angeführt von | |
ihrer Dekanin, mit dem Bus aus Nordhessen in Wittenberg angekommen. | |
Nein, Charlie Hebdo kommt nicht in unserer Predigt vor, habe ihr eine | |
Vikarsgruppe im Januar geantwortet, erzählt Oxen und klingt enttäuscht. Ein | |
islamistisch motivierter Mordanschlag als Thema einer Kanzelrede? „Ich | |
merkte, du näherst dich einem Thema, wo du nicht kompetent bist“, meldet | |
sich ein Pastor. „Ich erwarte keine Antworten“, hakt Oxen nach. „Aber was | |
denken Sie darüber?“ | |
„Das wirkt doch wie angehängt!“, springt eine Pastorin ihrem Kollegen bei. | |
So spontan solche Ereignisse in die Predigt einzubauen, das sei wohl | |
schwierig. Immerhin benötige eine Predigt Vorlauf und Vorbereitung. „Eine | |
Predigt ist kein Kommentar zum politischen Geschehen der Woche“, wirft eine | |
andere Pastorin ein. „Schlimmer wäre es, etwas in den Text | |
hineinzupressen.“ – „Die Leute interessiert stark, was Sie darüber denke… | |
ist Oxen überzeugt. | |
Und was wollen die Predigthörer? Der Beamer wirft Antworten an die Wand: | |
Bibelauslegung mit Lebensbezug, eine lebendige und konkrete Sprache, dabei | |
kurz und prägnant und dazu ein persönlich glaubwürdiger Prediger. Dafür | |
braucht die Predigt Dramaturgie, Spannung, Bilder, Denkanstöße, starke | |
Verben, wie ein Kinoregisseur soll der Prediger mit Schnitten hantieren. | |
Weniger erklären, mehr beschreiben, nicht kommentieren, nicht | |
zusammenfassen, sondern Details entdecken. Und ein bisschen | |
„Gänsehautfeeling“ wäre auch noch schön. „Eine Predigt soll nicht von … | |
reden, sondern trösten. Und bitte nicht im Kanzeltonmodus“, schärft Oxen | |
noch einmal ein. Sie steht mit Jeans und Blazer und einem leichten Tuch um | |
die Schultern vor dem Halbrund, sie hat die Meisterklasse Predigt in | |
Braunschweig absolviert, sie hat preisgekrönte Predigten gehalten und | |
steigt nur an ausgesuchten Orten auf die Kanzel, etwa im Berliner Dom. | |
Predigt als Premiumangebot. | |
Und wie steht es mit der Alltagsware? Detlef Küllmer blickt auf seinen | |
Predigttext. Die Gruppe sticht übrigens positiv heraus. Fast alle haben | |
eine Predigt gemailt. Jetzt gehen sie zu zweit die Reden durch. Küllmer | |
weiß wohl selbst am besten, wo die Schwachstellen stecken. Die Idee, die | |
Predigt für den verstorbenen Landarzt mit dem Paul-Gerhard-Schlager „Geh | |
aus, mein Herz“ zu unterfüttern, ist originell. Doch dann erklärt Küllmer | |
zu Beginn seine Intention recht wortreich, als müsste er seine eigenen | |
Worte kommentieren, und am Ende rutscht ihm manche Floskel heraus. „Wir | |
können dankbar zurückblicken“ ist so ein Satz. Ein Leben, „dem wir so viel | |
verdanken“ ein anderer. „Ein Geschenk, für das zu danken ist – auch Gott… | |
Pastorensound hat sich wie Rauschen über den Text gelegt. | |
Vier Stunden lang saß er über der Ansprache für einen Mann, den er nicht | |
kannte, erzählt Küllmer. Viel Zeit ist das nicht. Die Beerdigung war ein | |
Vertretungsdienst. Man muss sich auf das verlassen, was einem die | |
Angehörigen erzählen. Und zum Schluss fehle die Konzentration, da greife | |
man eben zu solchen Formulierungen. Andere beziehen die Inspiration für die | |
Sonntagspredigt am Samstagabend aus dem Internet. Es gebe nicht wenige, die | |
sich so behelfen, erzählt Küllmer. | |
„Menschen die im Arbeitsleben stehen, Menschen, die mit Gott nichts am Hut | |
haben“, diese Menschen zu erreichen, das war sein Ansporn, erzählt der | |
55-jährige Küllmer, ein Mann mit weißen Stoppeln und ruhiger Stimme. Seit | |
17 Jahren ist er im Pfarramt. „Ja, was ist draus geworden?“, fragt er. „M… | |
zerfließt da“, antwortet er vieldeutig. Immerhin, schickt er erleichtert | |
nach, es gebe kleine und große Highlights. Morgen stehen noch Übungen mit | |
einem Theaterregisseur an. | |
Am Abend, die Schar hat sich mittlerweile zerstreut, besucht die Dekanin, | |
die die Chefin der Pastorenschar ist, allein die Stadtkirche. Ja, das | |
Gruppencoaching habe sich jetzt schon gelohnt, flüstert sie. Nur eines habe | |
sie irritiert. Manche Kolleginnen strickten bei Zusammenkünften ständig, | |
berichtet sie. Sie könnten sich sonst nicht konzentrieren, heißt es dann. | |
Und? Keine einzige hat heute gestrickt. Vielleicht doch ein ganz gutes | |
Zeichen. | |
3 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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