# taz.de -- Gemeindearbeit in der Ukraine: „Kiew hat mich weiser gemacht“ | |
> Ralf Haska, deutscher evangelischer Pastor, hat fünf Jahre lang in Kiew | |
> gelebt und gearbeitet. Eine schöne, aber auch stürmische Zeit. | |
Bild: Ralf Haska im Dezember 2013. Er versucht Platz zwischen Demonstranten und… | |
taz: Herr Haska, haben die fünf Jahre, die Sie in der Ukraine verbracht | |
haben, Sie klüger gemacht? | |
Ralf Haska: (lacht) Ja natürlich! Der Mensch lernt jeden Tag Neues dazu, | |
lernt neue Menschen kennen. Und das war hier in Kiew eine tolle Sache, | |
einfach Menschen zu hören, die ganz andere Lebensgeschichten und ganz | |
andere Schicksale zu bewältigen haben als wir in Deutschland. Und das macht | |
klüger, das bereichert das eigene Leben! Fünf Jahre in einem fremden Land | |
machen einfach weiser. | |
Ist Ihnen die Ukraine immer noch fremd? | |
Ganz im Gegenteil, sie ist mir inzwischen zu einem Zuhause geworden! Auch | |
unsere Kinder empfinden das so. Wenn es nach ihnen ginge, würden wir hier | |
nicht wegziehen. | |
Und trotzdem verlassen Sie Kiew im August. Freiwillig? | |
Nein, ich muss. Eine Verlängerung war leider aus innerkirchlichen Gründen | |
nicht möglich. | |
Der Maidan ereignete sich quasi vor Ihrer Kirche. Welches Erlebnis war für | |
Sie das prägendste? Als Sie ein Gummigeschoss eines Scharfschützen | |
abbekommen haben? | |
Nein, das nicht. Der tanzende Maidan ganz am Anfang. Das war wundervoll, | |
als junge Leute ihre Demonstration „tanzten“. Dieses Fröhliche, Singende | |
und Tanzende war die eine Seite. Die andere waren die Schreie von der | |
Hauptbühne des Maidans am 20. Februar vergangenen Jahres. Da schallte es | |
aus den Mikrofonanlagen: „Sie schießen, sie schießen auf uns! Vorsicht, | |
Scharfschützen!“ Es war dieser Kontrast, der sich mir eingeprägt hat – | |
zwischen dem unbekümmert Fröhlichen und dem unfassbar Schrecklichen. | |
Wie haben die Geschehnisse auf dem Maidan das Land verändert? | |
Wirtschaftlich gesehen hat sich die Lage eher verschlechtert, zumindest für | |
die meisten. Die größten Probleme sind Korruption, massive Inflation, | |
enorme Preissteigerungen bei Kommunalgebühren und Medikamenten. Neu ist | |
allerdings das Gefühl des Stolzes vor allem bei der jungen Generation: Wir | |
haben es geschafft, aus der Lethargie aufzuwachen und unsere Forderungen | |
durchzusetzen. Die totale Resignation, die sich vor dem Maidan breitgemacht | |
hatte, ist einer neuen Hoffnung gewichen. Die Regierung weiß sehr wohl, | |
dass sie für die auf dem Maidan eingeforderten Reformen nicht ewig Zeit | |
hat. | |
Würden Sie Ukrainer als gläubig bezeichnen? | |
Laut einer Umfrage vor zwei Jahren haben sich 85 Prozent der Ukrainer als | |
religiös, also einer Kirche zugehörig bezeichnet. Unabhängig von den | |
Statistiken spürt man hier bei den Menschen, dass sie sehr wohl auf der | |
Suche nach Gott sind, und versuchen nach Gottes Wort und Gottes Geboten zu | |
leben. Ich erlebe es tagtäglich selbst: Die Menschen kommen an der Kirche | |
vorbei, kommen hinein, stellen sich vor den Altar, beten, knien sich hin. | |
Es ist eine andere, eine tiefe Frömmigkeit bei sehr vielen Ukrainern da. | |
Welche Rolle spielt Ihre Gemeinde in der ukrainischen Gesellschaft? | |
Unsere deutsche evangelische Gemeinde in der Ukraine zählt knapp 1.500 | |
Mitglieder. Sie wird von der Bevölkerung also kaum wahrgenommen. Aber da, | |
wo wir unsere alten Kirchbauten haben, in Odessa etwa oder hier in Kiew, | |
also im Stadtbild präsent sind, interessieren sich die Menschen für uns. Es | |
ist große Offenheit und Neugierde da. | |
Was bieten Sie den Menschen jenseits von Gottesdiensten? | |
Die Leute wissen mittlerweile, dass Sankt Katharina gerade für Kammermusik | |
ein guter Anlaufpunkt ist. Wir haben ein schönes Gebäude mitten in Kiew und | |
versuchen mit Konzerten, Lesungen und Ausstellungen das christliche | |
kulturelle Leben hier zu bereichern. | |
Die ukrainische Kirchenlandschaft ist bunt. Wie gestaltet sich der | |
interreligiöse Dialog? | |
Ich staune über die große ökumenische Gemeinschaft hier in der Ukraine, das | |
feste ökumenische Band zwischen den vielen Kirchen. Es ist wunderbar zu | |
erleben, dass man als winzig kleine Kirche im allukrainischen Bund der | |
Kirchen und Religionen als gleichberechtigtes Mitglied ernst genommen und | |
anerkannt wird. | |
Die ukrainische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats wird von vielen | |
angesichts der aggressiven russischen Politik als Handlanger des Kremls | |
kritisiert. Gewinnt die Idee einer einheitlichen, also von Moskau | |
unabhängigen, Kirche in der Ukraine an Popularität? | |
Ja, die Option einer Vereinigung zwischen den beiden großen orthodoxen | |
Kirchen – der des Moskauer und der des Kiewer Patriarchats – wird immer | |
wieder diskutiert, so auch im Moment. Aber ich glaube nicht, dass eine | |
vordringliche Hauptaufgabe der Kirchen darin besteht, diese Einheit auf | |
Biegen und Brechen herzustellen. | |
Sie leben als Deutscher in Kiew. Nehmen Sie die steigende Frustration | |
gegenüber der EU wegen deren mangelnden Unterstützung wahr? | |
Ein Stück Ernüchterung ist schon da, das stimmt. Man verbindet die rapide | |
Verschlechterung des Lebensstandards mit den harten Auflagen der EU. Dazu | |
kommt die Enttäuschung der Jugendlichen, die zwar nach Europa schauen, aber | |
immer noch nicht frei hinreisen dürfen. | |
Der Westen ist stets bemüht, die Ukrainer zu belehren. Gibt es denn nichts, | |
was wir bei ihnen abgucken können? Was haben Sie persönlich von den | |
Ukrainern gelernt? | |
Ein Stück weit Gelassenheit in Bezug auf Planungen. Den Mut zum | |
Aufbegehren. Die Standhaftigkeit in dem Bestreben, sich durchzusetzen. Aber | |
vor allem die Bereitschaft zur Unterstützung an allen Ecken und Enden. Es | |
gibt ja kaum ein soziales Netz, man ist darauf angewiesen, sich gegenseitig | |
zu unterstützen. Und gerade in diesen schweren Zeiten, wo auch noch die | |
Armee auf Hilfe angewiesen ist, geben viele das, was sie gerade geben | |
können und manchmal sogar mehr. Vor allem geben sie ihre freie Zeit. So | |
viele freiwillige Helfer habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen! Es | |
gleicht für mich einem Wunder, dass Menschen, obwohl sie selbst in einer | |
schweren Situation sind, immer noch bereit sind, den anderen die helfende | |
Hand zu reichen. Dafür bewundere ich die Ukrainer wirklich! | |
Wenn Sie irgendwann mal ein Buch über die letzten fünf Jahre ihres Lebens | |
schreiben würden, wie würde es heißen? | |
Das überlasse ich meiner Frau. Das kann sie viel besser als ich. Sie hat | |
ihre Erlebnisse als Pfarrersfrau in Kiew aufgeschrieben. Das Buch ist im | |
Dezember in Deutschland erschienen und heißt „Nachts zittert das Haus“. Es | |
handelt von Begegnungen mit einfachen Leuten während der Revolution auf dem | |
Maidan. Da kommen ganz verschiedene Menschen zu Wort – Deutsche, Ukrainer, | |
Russen. Diese Alltagsgeschichten finde ich sehr spannend. | |
4 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Jarina Kajafa | |
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