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# taz.de -- Auf dem Boulevard in Odessa: Nur das Meer ist noch gleich
> In Odessa ist der Kiewer Maidan so weit weg wie der umkämpfte Donbass.
> Viele glauben noch an die odessitische Identität. Doch die ist bedroht.
Bild: Das Flanieren auf der Potemkinschen Treppe ist für die Odessiter nach wi…
Schaut man am besten hinab oder hinauf? Hinunter zum Meer oder doch hoch
zur Stadt? Auf die Hafenbecken, wo sich kaum noch ein Kran dreht, oder
hinauf zum Richelieu-Denkmal und dem Primorski-Boulevard, seit ihrer
Gründung 1794 der grandiose Balkon der Stadt. Auch Sergej Eisenstein hat
die Frage nicht beantwortet. In seinem filmischen Monument „Panzerkreuzer
Potemkin“ hat er 1925 den Kinderwagen über die Treppe von Odessa
hinabbrettern lassen wie auch die zaristischen Kosaken mit ihren Stiefeln
und Bajonetten hinabmarschierten. Doch unten warteten die revolutionären
Matrosen. Und die wollten hoch, endlich nach oben, zur Freiheit, nach
Odessa.
Schwer zu sagen, was den Klang dieser Silben ausmacht – O-des-sa. Ist es
die Verheißung einer Hafenstadt im Süden, deren Ruhm sich schon kurz nach
ihrer Gründung im russischen Zarenreich von Moskau über Sankt Petersburg
nach Warschau verbreitet hat? Ist es das Schwarze Meer, deren Metropole sie
werden konnte, weil Istanbul keine Hafenstadt sein wollte, sondern sich
geschickt versteckt hat am Goldenen Horn? Oder ist es doch ihre Erzählung
als zum Meer hin gerichtete Stadt, die keiner Nation gehört, nur ihren
Erbauern und Bewohnern?
Man ist hier noch immer zuerst Odessit, wird uns später ein junger Mann am
Strand von Lanscheron sagen, der mit seiner Freundin zum Eisessen gekommen
ist. „Kiew ist hier ebenso weit weg wie der Donbass. Unser Blick geht wie
vor zweihundert Jahren aufs Meer.“
Wir sind nicht übers Schwarze Meer gekommen, sondern mit dem Flieger
gelandet. Aber schon die Fahrt mit dem Taxi ins Zentrum macht deutlich,
dass diese Stadt mehr Vergangenheit hat als Gegenwart und Zukunft. Rechts
und links der breiten Straßen ein- und zweistöckige Häuser, deren Stuck von
besseren Tagen erzählt. Von Zeiten, in denen Odessa ein „Palmyra des
Südens“ oder ein „zweites Sankt Petersburg“ genannt wurde. Heute sind sie
meist verfallen, in den Höfen verkriecht sich die Armut, keine Stadt
Europas hat so viele Aids-Infizierte wie das eine Million Einwohner
zählende Odessa. Je näher man der Innenstadt kommt, desto höher werden die
Häuser, doch nie wird die Stadt übermütig.
Mag die jüngste Hafenstadt des Schwarzen Meeres auch in die Jahre gekommen
sein, ihren Gründungsmythos hat sie sich zurückerobert. Die Flaniermeile
Deribasowskaja ist nach dem ersten Statthalter José de Ribas benannt, einem
spanischen Abenteurer aus Neapel, der den Gründungsaufruf der Zarin
Katharina II. von 1794 rasch in die Tat umsetzte. Parallel dazu die
Lanscheronowskaja, benannt nach dem aus Frankreich stammenden Gouverneur
Langeron.
Natürlich darf die Griechenstraße nicht fehlen, und auch nicht die
Katharinenstraße zum Gedenken an die große Stadtgründerin, die nach dem
Erwerb der nördlichen Schwarzmeerküste Odessa nicht nur zur Hauptstadt der
Provinz „Neurussland“ machte, sondern auch den Namen korrigierte. De Ribas
wollte die neue Hafenstadt nach der alten griechischen Kolonie Odessos
nennen. Katharina fand aber, dass es Zeit sei, eine weibliche Stadt zu
gründen, also wurde aus Odessos Odessa. Und die Katharinenstraße, die zu
Sowjetzeiten nach Karl Marx benannt war und während der rumänisch-deutschen
Besatzung nach Adolf Hitler, heißt heute wieder nach der russischen Zarin
deutscher Herkunft.
## Ein Denkmal für Katharina
Die Sowjetunion ist Geschichte, aber eine ukrainische Stadt ist Odessa nie
geworden, erzählt uns eine Frau am Ende der Katharinenstraße, wo es die
Touristen schon Richtung Treppe zieht. Als 2007 das Denkmal für die
Stadtgründerin Katharina wieder aufgestellt wurde, habe es heftige Proteste
gegeben, die Regierung in Kiew blieb den Feierlichkeiten fern. Vielen
Ukrainern gilt Katharina als Symbol russisch-imperialistischer
Großmachtpolitik. Unbeachtet bleibt in dieser Kiewer Perspektive, dass
Katharinas Odessa schnell ein Eigenleben entwickelt hat, über das man auch
in Sankt Petersburg nicht immer glücklich war.
Isaak Babel hat diesem unvergleichlichen Völkergemisch und dem jüdischen
Odessa mit seinem sprichwörtlichen Humor ein literarisches Denkmal gesetzt.
Gleichzeitig war die Stadt aber immer auch Peripherie gewesen. Im 19.
Jahrhundert wurde Odessa sogar zum Verbannungsort – unter anderem für
Alexander Puschkin und den späteren polnischen Nationaldichter Adam
Mickiewicz.
Auf dem Primorski-Boulevard steht heute Puschkins Denkmal. Auch das ist für
viele ukrainische Ultranationalisten in der vorwiegend russischsprachigen
Stadt ein Ärgernis. Die Mehrheit der Odessiten ist dagegen stolz auf ihren
Dichter – und die Geschichte der Stadt, die der österreichische
Schriftsteller Karl-Markus Gauß einmal eine „Genieerzeugungsanstalt“
genannt hat.
## Boffos Treppe
Ein solches Genie war auch Francesco Boffo. Von 1837 bis 1841 ließ der
italienische Architekt die berühmte Treppe bauen. Das Baumaterial war
Sandstein aus Triest. Die Besonderheit seiner Treppe bestand aus einer
Illusion. Wer hinabschaut sieht nur die zehn Treppenabsätze und ein
Bauwerk, das oben genauso breit scheint wie unten. So rückt der Hafen
optisch näher an die Stadt. Von unten sieht man hingegen nur die 192 Stufen
– und erlebt, wie sich die Treppe zum Platz hin verjüngt.
Der Primorski-Boulevard und die städtische Kulisse scheinen unerreichbar,
schrieb gleich nach der Wende, als Odessa wiederentdeckt wurde, ein Autor
in der FAZ. „(Es) ist wie ein endlos aufsteigendes Meer von Stufen. Die
geringe Höhendistanz wird ins Unüberwindbare gesteigert, Odessa scheint im
Himmel zu thronen.“ Ist man dann oben angekommen, staunt man, dass man noch
nicht einmal ins Schwitzen geraten ist. Die Höhendifferenz beträgt gerade
einmal 30 Meter.
Boffo hat sich also auch nicht entscheiden wollen, ob der Blick nun besser
der Stadt gebühre oder dem Meer. Heute dagegen schaut fast keiner mehr auf
den Hafen. Nicht nur, weil das – inzwischen geschlossene – Hotel Odessa aus
Spiegelglas den Blick aufs offene Meer versperrt. Auch die Schiffe nach
Georgien gehen nicht mehr von Odessa, sondern vom südlicher gelegenen
Illitschiwsk. Und dann ist da noch die von Russland besetzte Krim.
„Putin will wie Katharina die Große wieder ein Neurussland schaffen“, sagte
uns der Mann am Lanscheron-Strand. Er ließ offen, ob er das eher
befürwortet oder bedrohlich findet. Das Neurussland, mit dem Odessa, die
Perle am Schwarzen Meer, gegründet wurde, war zumindest beides – imperial
und aufgeklärt. Das neue Neurussland dagegen wäre bloß noch
Großmachtgehabe. Und das kosmopolitische Odessa, in dem die Spannungen
spürbar zugenommen haben, könnte ihm zum Opfer fallen.
8 Nov 2015
## AUTOREN
Uwe Rada
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