Introduction
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# taz.de -- Auszug aus Romandebüt „1988“: Was für ein Jahr
> 1988 lernen sich Jan und Wiola kennen. Es ist der Auftakt einer
> leidenschaftlichen, platonischen Liebesgeschichte zwischen Ost und West.
Bild: „Die Mauer war auch eine Art Löschpapier, mit dem wir die jeweils ande…
Warum nur hat sie Sie geschrieben? Hatte sie mich überhaupt einmal mit Sie
angesprochen? Was ist bloß in sie gefahren? Auf dem Beifahrersitz liegt der
Brief. Ihr Brief. Ich drücke leicht aufs Bremspedal, schalte in den vierten
Gang zurück, greife nach dem Umschlag. Auf der Vorderseite steht mein Name,
ihrer, in kleinen Buchstaben geschrieben, auf der Rückseite. Dazwischen
zwei eng beschriebene Seiten.
Habe ich eine Stelle übersehen, irgendein Zeichen, das mir verraten hätte,
warum sie ausgerechnet jetzt schrieb, nach so langer Zeit? Lieber Jan,
erinnern Sie sich? Lieber Jan, zwei Worte, die mich ohne Vorwarnung trafen
und augenblicklich ihr süßes Gift verbreiteten. Und dann, gewissermaßen als
Gegengift, dieses Sie. Ich lege den Umschlag zurück auf den Beifahrersitz
und schalte wieder hoch. Wie kann sie glauben, ich würde mich nicht mehr
erinnern? Und wozu braucht sie die Distanz durch das Sie? Hat nicht die
Zeit genügend Abstand geschaffen?
In einer Viertelstunde werde ich an der Grenze sein. Eben sind einige
Schneeflocken auf die Windschutzscheibe gesegelt. Dicke, tanzende Flocken,
die sich, kaum berühren sie die Scheibe, in Dreckwasser verwandeln, das der
Scheibenwischer wegschnalzt. Was ist unsere wirkliche Gestalt, hatte sie
mich einmal gefragt und von einem gut aussehenden jungen Mann erzählt,
dessen Gesicht nach einer schweren Krankheit von Narben entstellt war.
Zuvor seien die Frauen auf ihn geflogen, hatte sie erklärt. Was haben sie
gesucht? Seine markante Stirn? Oder das, was sich hinter dieser Stirn
verbarg? Aber das wusste er vielleicht selbst nicht, weil bis dahin alles
so glatt gegangen war. Und plötzlich erkannten ihn seine Freunde nicht
wieder, hatte sie gesagt. Und er sich selbst auch nicht.
## Unser Jahr in Westberlin
Lieber Jan, erinnern Sie sich? Was für eine Frage. Muss man solche Fragen
beantworten? Fast dreißig Jahre sind vergangen seit jenem Jahr. Unserem
Jahr in Westberlin. Woher sollte sie die Gewissheit nehmen, dass ich mich
tatsächlich an all das, was geschehen war, erinnere? Würde ich sie
überhaupt wiedererkennen? Ihre Stimme, ihr geheimnisvolles Lächeln, das so
schnell umschlagen konnte wie das Wetter in diesem Sommer? Vielleicht hatte
auch sie eine Häutung durchgemacht wie der junge Mann, den sie damals
erwähnte. Aber wer wäre sie dann? So viele Jahre später? Natürlich bin auch
ich ein anderer geworden in diesen Jahren, vielleicht sogar einer, den man
besser siezt als duzt.
An der Grenze kontrolliert keiner mehr. Damals, als unser Jahr dem Ende
entgegen gegangen war, war die Grenze schwer gesichert gewesen. Strenge
Blicke, in den Pass, in die Pupillen. Aussteigen. Auspacken. Beine breit.
Hände aufs Autodach. Wenn das eine Brudergrenze ist, flüsterte ich, dann
frage ich mich, wer hier Kain ist und wer Abel. Wiola warf mir einen bösen
Blick zu. Ich merkte sofort, dass sie ebenso nervös war wie ich. Hatte sie
etwas zu verbergen?
Was hatte ich eigentlich von ihr gewusst? Selbst bei dem, das sie
preisgegeben hatte, konnte ich nicht sicher sein, dass es stimmte. Wiola,
das hätte ich ihr später gerne noch hinterher gerufen, du bist flüchtig. Du
bist nicht zu fassen, egal, ob du auf der Flucht bist oder dich von deinen
Fluchten ausruhst. Wiola hatte den Grenzer angelächelt und ihm irgendeine
Geschichte erzählt. Ein paar Minuten später hatten wir die Pässe zurück.
Heute ist diese Grenze nichts weiter als eine Brücke, die ein Flusstal
überspannt. Man muss den Fuß vom Gaspedal nehmen, damit einen der
Seitenwind nicht bedrängt, das ist alles. Was würde Wiola sagen, wenn wir,
jetzt, in diesem Moment, zusammen über den Fluss fahren würden? Würde sie
sich freuen über die neue Freiheit in Europa? Dass der Traum endlich
Wirklichkeit geworden war?
Oder würde sie darauf hinweisen, dass sich die Grenzen nur verschoben
hatten? Dass Menschen überall, wo sie den Vorrat an Gemeinsamkeiten
aufgebraucht haben, Grenzen ziehen, sie somit etwas völlig Menschliches
seien. Mach dir doch nichts vor, würde sie vielleicht sagen, jeder von uns
ist in seinem Innersten ein Grenzsoldat. Verdammt, ich fange schon wieder
an, in Gedanken mit ihr zu reden.
## Ein Leben aus zweiter Hand
Lieber Jan. Und du, Wiola? Liebe Wiola? Was hat die Zeit aus dir gemacht?
Aus Ihnen, Wiola? Liebe Wiola, selbst dieses liebe Wiola geht mir nicht
über die Lippen. Auch nicht im Auto, wo mich keiner hören würde, selbst
wenn ich plötzlich anfangen würde zu brüllen: Liebe Wiola? Das würde dir
gefallen, was? So zu tun, als würden wir diese Beziehung einfach
fortsetzen, die du damals so abrupt beendet hast. Auf unserer
albtraumhaften Fahrt nach Polen. Aber auch bei unserem ersten Geplauder
damals in diesem Kreuzberger Hinterhof.
Liebe Wiola. Vergiss es. Mich wickelst du nicht mehr um den Finger. In mir
wirst du dein Gift nicht mehr verbreiten. Liebe Wiola, zum Teufel kannst du
dich scheren, zu all deinen Dichtern und Dämonen, mit denen du mich immer
behelligt hast. Natürlich, es ging nur um Poesie, um ein Leben aus zweiter
Hand. So wie all deine Sätze im Zweifel Zitate waren. Oder Dialoge auf
Probe, weil du erst schauen wolltest, ob sie der Wirklichkeit standhielten.
Wovor bist du geflohen? Wovor sind Sie geflohen?
Nein, auch ein Sie würde mir nicht über die Lippen gehen. Wie geht es
Ihnen, Wioletta? Das hätte ich mal sagen sollen, damals bei unserer ersten
Begegnung. Den ganzen Tag über hatte es geregnet, aber am frühen Abend
waren die Sonnenstrahlen zwischen den Wolken durchgekrochen, und plötzlich
war es unverschämt warm. Darf ich, hatte sie gefragt und auf meinen
Tabakbeutel gezeigt. Klar, warum nicht, hatte ich geantwortet, irgendwas,
was man halt sagt, wenn man von einer fremden Frau angesprochen wird.
Ich glaube, ich saß im Schankgarten der Hinterhofkneipe auf einem
Mauervorsprung, den die Sonne soeben getrocknet hatte, zwischen den Füßen
eine Flasche Bier, zwischen den Fingern der Tabak. Mats und Kalle, meine
Mitbewohner, mit denen ich verabredet war, ließen auf sich warten. Ich
hoffte, sie hatten nicht schon wieder Ärger mit der Polizei. Zwei Tage
zuvor war Mats festgenommen worden, angeblich soll er einen Beamten
bespuckt haben. Nach zwei Stunden in Polizeigewahrsam hatten sie ihn wieder
laufen lassen. Nicht einmal meine Fingerabdrücke wollten sie, hatte er am
Morgen am Küchentisch gemault. Daraufhin hatte Kalle die Flasche Obstler
auf den Tisch gestellt. Was ist das, hatte Mats wissen wollen. Magere
Beute, hatte Kalle geantwortet, mehr war bei Getränke-Hoffmann nicht zu
holen.
Erste-Mai-Geschichten, so was hatten wir uns damals ständig erzählt. Im
Rückspiegel sehe ich mich lächeln. Was haben wir uns wichtig genommen,
damals auf dieser Insel namens Westberlin? Die ganze Welt wollten wir aus
den Angeln heben, und was sprang am Ende dabei heraus? Eine Flasche
Obstler. Was für eine Zeit. Und was für ein Jahr. Das letzte Jahr im
Vorfeld epochaler Veränderungen, hatte mir ein Neunmalkluger mal erzählt,
führe in der Geschichte immer ein Schattendasein. Ich bin mir da nicht
sicher. Wahrscheinlich sind die Historiker nur neidisch, weil sie selbst
nichts mitbekommen haben von den epochalen Veränderungen. Kann man einem
Jahr etwas vorwerfen wie einem Menschen?
Und jetzt bin ich auf der anderen Seite der Grenze, die keine mehr ist. Was
würde Wiola dazu sagen? Wiola, die sich an diesem Dienstagabend meinen
Tabak genommen und in ihrem lustigen Deutsch festgestellt hatte: Du rauchst
aber hartes Zeug. Dann hatte sie sich selbst eine von diesem harten Zeug
gedreht und sich neben mich auf den Mauerabsatz gesetzt. Erst in dem Moment
hatte ich mich zu ihr gedreht. Sie war ziemlich groß und schlank und hatte
ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare zu einem hohen, etwas zur Seite
abstehenden Pferdeschwanz gebunden.
Was sie anhatte, weiß ich nicht mehr, aber eines werde ich nicht vergessen.
Ihre Schuhe, es waren Pumps, waren quietschrot. Nichts gegen quietschrote
Schuhe, aber quietschrote Schuhe waren in diesem Hinterhof eher nicht
angesagt. Schon gar keine quietschroten Pumps. Ich meine, nicht in dem
Sinne, dass irgendwer was dagegen gehabt hätte. Es trug sie einfach keiner.
Entweder du gingst barfuß, bist in Sandalen rumgelatscht oder deine Füße
steckten in klobigen Springerstiefeln. Quietschrote Pumps waren was für die
Schicksen am Ku’damm. Nichts für den Kreuzberger Mehringhof.
Warum hatte ich ihr das nicht gesagt? Weil ich es mir nicht gleich am
Anfang verderben wollte? Ist was, hatte sie gelacht. Ich biss mir auf die
Unterlippe und schüttelte den Kopf.
## Du Revolutionsromantiker
Wenn ich an die Kneipe im Mehringhof denke, fallen mir vor allem Gesichter
ein. Die beiden Typen hinterm Tresen, wie Pat und Patachon, einer groß, der
andere klein und untersetzt. Beide hatten Jahre im Knast gesessen, das
machte damals Eindruck auf mich. Oder der taz-Verkäufer, ein
dauerlächelnder Punk, der immer gegen zehn Uhr abends auftauchte und seine
druckfrischen Zeitungen anpries. An dem Abend, an dem ich Wiola begegnet
war, hatten wir ihm das Blatt aus der Hand gerissen. Die Tage nach dem
Ersten Mai waren immer taz-Tage gewesen.
Ich erzählte Wiola damals im Mehringhof, wie es losgegangen war an diesem
Sonntag. Wie der schwarze Block am Lausitzer Platz einen Polizeibus
umgeworfen hatte. Wie die Bullen daraufhin das Straßenfest auf dem Platz
gestürmt hatten. Ein paar Leute konnten sich in unseren Hauseingang
flüchten.
Es war wie im Krieg, hatte ich zu Wiola gesagt, dem taz-Verkäufer einen
Blick zugeworfen und ihm einszwanzig in die Hand gedrückt. Hier, lies es
selbst, ich zeigte ihr die Schlagzeile: 1. Mai: Bilanzen einer
Vollmondnacht. 1.500 Bullen haben 134 Leute festgenommen, hatte ich mich
empört, aber Wiola hatte mich nur staunend angeschaut. Du bist ja ein
richtiger Revolutionsromantiker, frotzelte sie herausfordernd.
Ich, ein Revolutionsromantiker, hatte ich gelacht und getönt, dass ich am
1. Mai eher kämpferisch als romantisch veranlagt sei. Romantisch sei eher
was für die Stunden ohne Bullen. Wiola zog ungerührt die Augenbrauen hoch
und erklärte, dass in der polnischen Romantik der Märtyrer Heldenstatus
genieße. Wenn er für die Freiheit Polens kämpfte, durfte er sogar in den
Kugelhagel des Gegners rennen, ganz egal, ob das Aussicht auf Erfolg hatte
oder nicht. Was habe ich damit zu tun, fragte ich damals. Was ist denn das,
was du am 1. Mai veranstaltest, anderes, als sehenden Auges in eine
Niederlage zu rennen, antwortete sie kopfschüttelnd. Willst du etwa als
Märtyrer in die Geschichte eingehen?
Ich schüttelte den Kopf. So einen Kommentar zum Ersten Mai hatte ich noch
nie gehört. Ich weiß nicht, ob ich gesagt habe: Du spinnst. Gedacht habe
ich es.
16 Nov 2017
## AUTOREN
Uwe Rada
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