# taz.de -- Roman von Esther Kinsky: An Flüssen sieht man besser | |
> Esther Kinsky ist eine Meisterin kleiner Beobachtungen. In ihrem Roman | |
> „Am Fluss“ erweist sie sich als Archäologin des Unbedeutenden. | |
Bild: River Lea: „Immer flussabwärts, jedes Mal ein Stück weiter.“ | |
Nein, die Ich-Erzählerin in Esther Kinskys Roman „Am Fluss“ ist keine | |
Flaneurin. Sie schlendert nicht vorbei an der Tower Bridge oder den | |
geschäftigen Docklands, der Postkarten- und Global-City-Kulisse Londons. | |
Ihre ausgedehnten Spazierrouten führen durchs Dickicht der Vorstadt, vorbei | |
an verwitterten Ziegelmauern, buschigem Gelände und durch ärmliche Straßen, | |
in denen Greengrocer Katz, ein schmallippiger Kroate, oder Jackie, dessen | |
Kippa immer schief sitzt, die Zeit totschlagen. | |
Auch der Fluss, an den die Erzählerin immer wieder zurückkehrt, ist nicht | |
die Themse, sondern der River Lea, ein meist unansehnlicher und | |
unscheinbarer Industriefluss, der schließlich, versteckt hinter Bauzäunen | |
und Brandwänden, in die Themse mündet und die Grenze markiert zwischen East | |
London und dem Marschland, wo der Kompass nicht mehr Richtung Stadt zeigt, | |
sondern zum Meer. | |
In diese ungesicherte Stadt-Land-Fluss-Geografie hinein wirft Kinsky ihre | |
Heldin, die irgendwann einmal im richtigen London lebte und an anderen | |
Flüssen, bevor es sie in den tristen Osten der Metropole trieb, den sie auf | |
den 387 Seiten dieses mäandernden Textflusses kartiert und seziert. Warum | |
sie das tut, ist eines der Rätsel, das dieses Buch dem Leser aufgibt. | |
So bleibt einem zunächst nichts anderes, als sich an den River Lea zu | |
halten und die Richtung, die er vorgibt. „Ich ging immer flussabwärts, | |
jedes Mal ein Stück weiter, hielt mich an dem Fluss fest wie an einem Seil | |
beim Balancieren über einem schmalen Steg.“ | |
## Leeres Land und Stücke der Kindheit | |
Und plötzlich wird aus dem unscheinbaren Lea ein Erinnerungsfluss. | |
„Zwischen dem leeren Land auf der Ostseite des Flusses und den Siedlungen | |
und Fabriken auf der anderen Seite fand ich Stücke meiner Kindheit wieder, | |
andere aus Landschafts- und Gruppenfotos herausgeschnittene Teile, die sich | |
zu meiner Überraschung hier niedergelassen hatten.“ | |
Esther Kinsky ist ein Flussmensch. Aufgewachsen am Rhein, hat die | |
Übersetzerin und Lyrikerin mit ihrem ersten Roman, „Sommerfrische“, eine | |
Flusslandschaft in Ungarn beschrieben, an der die Menschen sich der | |
Naturgewalt beugen müssen – oder untergehen. | |
Nun legt sie mit „Am Fluss“ einen Roman vor, dessen Radius viel weiter | |
reicht als die Spaziergänge am River Lea. Dort, aber auch in ihren | |
Erinnerungen an den Rhein, die Oder, den Sankt-Lorenz-Strom, den Ganges, | |
die Neretva oder – eines der berührendsten Kapitel – den Jarkon in Tel | |
Aviv, entwirft sie eine Poetologie der Flüsse, die den Menschen allein | |
Orientierung geben, denn „ohne den Fluss als Halt war ich ratlos“. | |
Es ist die Sprache, die am Ende doch noch das Rätsel dieses verstörenden | |
und großartigen Romans löst. „Fischreiher standen reglos auf | |
schilfumwachsenen Stein- und Ziegelvorsprüngen der Fabrikmauern und | |
starrten ins Wasser, ungerührt um ihre Unberührbarkeit wissend, wo die | |
abgehalfterte Städtischkeit klaffte und platzte und sich kleinhalmiges | |
Wildgrün aus den Ritzen schob.“ | |
## Schule des Sehens | |
Kinsky verzichtet auf Dialoge und Metaphern und nähert sich der ungewohnten | |
Umgebung (und ihrem neuen Leben) mit der Lupe. „Die Ziegel der Mauer und | |
Pfeiler zwischen rostenden Eisenstäben wurden durchlässig und fanden zu dem | |
zurück, was sie vor ihrer Verziegelung gewesen waren, Lehm, Erde, Boden, | |
Ablagerung längst verströmter Wasserläufe.“ Am Fluss blickt man unmittelbar | |
auf die Dinge und nennt sie beim Namen. So ist der River Lea für die | |
Erzählerin auch eine Schule des Sehens. Die Fotografien aus einer alten | |
Kamera, die sie von ihren Erkundungen am Fluss mitbringt, helfen ihr | |
schließlich, die „herausgeschnittenen Teile“ ihres Selbstbildes neu | |
zusammenzusetzen. | |
Man muss sich auf den plätschernden Erzählfluss von Esther Kinsky | |
einlassen. Ist man dazu bereit, erfährt man viel über die Unbehaustheit, | |
die jeden irgendwann ereilt, und die kleinen Dinge, die einem dann Halt | |
geben und Orientierung. Und ganz nebenbei entwirft Esther Kinsky, diese | |
Archäologin der scheinbaren Unbedeutendheiten, ein faszinierendes Porträt | |
von London und seinen Rändern. | |
7 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
Kreuzberg | |
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