| # taz.de -- Debatte Umweltschutz: Für einen Zeit-Wohlstand | |
| > Über Umweltschutz wird neu diskutiert – und dabei auch die Verbindung | |
| > hergestellt zwischen Burnout und der Ausbeutung der Erde. | |
| Bild: Einfach mal in einen Baum starren entspannt auch. | |
| Es gibt einen „Verein zur Verzögerung der Zeit“ – was natürlich nicht | |
| physikalisch gemeint ist. Thema ist vielmehr die Entschleunigung des | |
| Lebens, basierend auf der Erkenntnis, dass „trotz der Erfindung immer | |
| zeitsparenderer Techniken die meisten Menschen unter immer größerem | |
| Zeitmangel leiden.“ Ein Anti-Stress-Verein sozusagen. | |
| Und er ist nicht der einzige. Es gibt inzwischen zahlreiche Organisationen, | |
| die sich auf unterschiedliche Weise dem Thema Zeit widmen. Da gibt es die | |
| „Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik“ und die „Gesellschaft für | |
| Zeitkultur“. Es gibt den „Zeitkurort Königsfeld“ im Schwarzwald, es gibt | |
| eine Slow-Bewegung von Slow Food bis Slow City (auch Cittàslow genannt), | |
| und es gibt kreative Einzelprojekte, wie etwa „Zeit statt Zeug“. | |
| Der persönliche Stressabbau ist in dieser neuen Zeit-Bewegung aber oft nur | |
| der eine Aspekt. Der andere ist der Schutz der Umwelt durch | |
| Entschleunigung. Und so verschmelzen in diesen Organisationen und | |
| Aktionsformen zwei bislang oft separat geführte Debatten. | |
| Sinnvoll ist das zweifellos, denn die Ausbeutung der persönlichen | |
| Ressourcen und die Ausbeutung der Erde sind oft eng gekoppelt. Nicht | |
| zufällig steigt parallel zur Übernutzung der Natur die Zahl der | |
| Burnout-Fälle – Entschleunigung kann beides kurieren. Und so ist die Frage, | |
| was eigentlich Wohlstand ist, zur zentralen Frage einer Umweltdiskussion | |
| geworden, die heute ganzheitlich geführt wird wie nie zuvor. | |
| ## Punktuelle Debatten in der Vergangenheit | |
| In der Vergangenheit fanden gesellschaftliche Debatten über den Schutz der | |
| Umwelt zumeist sehr punktuell statt. In den siebziger Jahren war der | |
| Begriff Umweltschutz vor allem von einer Protestbewegung geprägt, speziell | |
| auf den Bauplätzen der Atomkraftwerke. In den achtziger Jahren standen die | |
| persönlichen Risiken, etwa durch die Chemie, im Vordergrund. Es war eine | |
| Zeit, in der es für Umweltprobleme oft noch einfache Lösungen gab: Die | |
| Debatte über das Waldsterben führte zur Großfeuerungsanlagenverordnung, die | |
| Diskussion über das Ozonloch zum Montrealer Protokoll. | |
| Nach einer Flaute der Umweltdebatte zu Beginn der neunziger Jahre – die | |
| deutsche Vereinigung war noch zu jung, um Spielraum zu lassen für andere | |
| Themen – rückte das Thema Umwelt in die Wirtschaft, wo es zur | |
| Jahrtausendwende von der Industrie hemmungslos vereinnahmt wurde: | |
| Umwelttechnik wurde zum Börsenstar, die Gesellschaft begeisterte sich für | |
| „Green-Tech“. Technokraten übernahmen die Wortführerschaft und erklärten | |
| jedes Problem für technisch lösbar, auch das Klimaproblem. | |
| Die Umweltzerstörung schritt gleichwohl schneller voran denn je – und so | |
| bricht sich heute langsam die Erkenntnis Bahn, dass eine enkeltaugliche | |
| Welt allein durch technische Innovationen nicht zu schaffen ist. Es braucht | |
| auch gesellschaftliche Innovationen, eine Debatte über Suffizienz und | |
| Fragen des Lebensstils. Dies geschieht einerseits zwangsläufig, weil die | |
| Grenzen des Wachstums sichtbar werden (auch wenn man bislang lieber von | |
| Finanzkrisen spricht). Andererseits aber auch, weil immer mehr Menschen | |
| begreifen, dass überbordender Konsum heute das Gegenteil von Wohlstand ist. | |
| Denn jeden Konsum muss man sich erarbeiten – auf Kosten des | |
| Zeit-Wohlstands. | |
| Das Prinzip „Zeit statt Zeug“ perfektioniert nun die Idee, sich dem | |
| herrschenden Konsumismus zu entziehen. Man verschenkt einen Waldspaziergang | |
| anstelle eines Parfüms, einen Zoobesuch statt eines Kuscheltiers, einen | |
| Kochabend anstelle eines Kochbuchs. Motto: „Den guten Freunden schenken wir | |
| Zeit, der Welt weniger Verbrauch.“ Genau das ist sie, die neue | |
| Umweltbewegung. | |
| Sie wird ideell geprägt von Prominenten wie Harald Welzer oder Niko Paech. | |
| Die beiden Wissenschaftler widersetzen sich auf erfrischende Art der | |
| verbreiteten Weltsicht, wonach maximaler Konsum und maximaler Besitz | |
| maximales Glück bedeuten. Paech propagiert den Abschied von der | |
| Vollzeit-Erwerbsarbeit, um einen Teil der Zeit der Selbstversorgung, der | |
| Nachbarschaftshilfe, der Reparatur von Gütern zu widmen. So ersetzt | |
| Handwerk und soziales Engagement einen Teil des Einkommens – und die | |
| psychische Belastung der Menschen sinkt, womit eine neue Art von Wohlstand | |
| entsteht. | |
| ## Freiheit des Pragmatismus | |
| Sollten solche Ideen um sich greifen, würden enorme Fortschritte im Klima- | |
| und Umweltschutz möglich. Aber nicht nur das. Das Prinzip kann auch abseits | |
| des globalen Nutzens jeden Einzelnen fit für die Zukunft machen in Zeiten, | |
| in denen das Bauchgefühl sagt, dass der von billigem Geld gedopten | |
| Weltwirtschaft erhebliche Turbulenzen bevorstehen. | |
| Wissenschaftler sprechen von Resilienz. Das heißt: Man organisiert sein | |
| Leben im eigenen Interesse auf eine Weise, die es widerstandsfähiger macht, | |
| etwa gegenüber Krisen des Wirtschafts- und Finanzsystems. Wer hingegen ein | |
| Leben führt, das auf einen boomenden Welthandel und ständiges | |
| Wirtschaftswachstum angewiesen ist, der ist heute verdammt verwundbar. | |
| Und so begreifen nun gesellschaftliche Vordenker, dass eine reduzierte | |
| Abhängigkeit von der Globalökonomie enorme Lebensqualität und -sicherheit | |
| bringen kann. Die Transition-Town-Bewegung – auch eine Ausprägung der neuen | |
| Umweltbewegung – will sich dieser Unabhängigkeit nähern: Gemeinden oder | |
| Regionen reduzieren ihren Verbrauch an fossilen Energieträgern, sie stärken | |
| ihre regionale Wirtschaft, bauen die örtliche Nahrungsmittelproduktion aus. | |
| Und machen sich auf diese Weise krisenfest. | |
| Was diese neuen Bewegungen kennzeichnet, ist ihre offene Weltsicht. Es geht | |
| nicht mehr um die einst leidenschaftlich geführte Debatte, ob und wann die | |
| Grenzen des Wachstums erreicht sind. Es geht ganz pragmatisch darum, | |
| gewappnet zu sein, wenn diese Grenzen auf den Alltag durchschlagen. Es geht | |
| auch nicht mehr um die politische Debatte darüber, wie weit Konsum das | |
| Wohlbefinden steigert. Sondern darum, mit weniger Konsum den persönlichen | |
| Zeitwohlstand zu erhöhen und damit Lebensqualität zu gewinnen. | |
| Damit wird Ökologie zur Lebenskunst – eine bessere Perspektive kann die | |
| Natur aus heutiger Sicht nicht haben. | |
| 19 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernward Janzing | |
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