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# taz.de -- Stadtteilkultur in Boliviens Hauptstadt: Morgen beginnt schon heute
> Kultur spielte im Viertel El Alto in La Paz lange keine Rolle, es ging um
> die nackte Existenz. Nun tragen autonome Zentren eine lebendige
> Stadtteilkultur.
Bild: Blick von der Oberstadt El Alto auf La Paz.
EL ALTO taz | Ein Mobiltelefon klingelt. Anita zieht eine Grimasse und
deutet mit rollenden Augen auf das Plakat am Eingang des Proberaums. In
dicken Lettern stehen darauf die Regeln für alle Teilnehmer. Das
Ausschalten der Mobiltelefone gehört dazu. Noch wichtiger ist jedoch der
gegenseitige Respekt. „Wer hierherkommt, um den eigenen Körper und den
Geist zu entdecken, soll sich wohlfühlen“, sagt Anita, eine Schauspielerin
mit pechschwarzen langen Haaren. Sie unterrichtet die Gruppe aus acht
Jungen und vier Mädchen, die sich zweimal pro Woche im Proberaum von
„Compa“ trifft. Das Kürzel steht für „Gemeinschaft der Kunstproduzenten…
und die wurde Mitte der neunziger Jahre von Iván Nogales aus der Taufe
gehoben.
„Er steht am Anfang von ’Compa‘, als er in den neunziger Jahren begann mit
Straßenkindern den öffentlichen Raum in El Alto zu nutzen und Theater zu
spielen“, erklärt Theaterlehrerin Anita. Gemeinsam mit ihrer Schwester
wurde Anita damals auf den Sozialarbeiter, Soziologen und Theaterpädagogen
aufmerksam. „Der machte etwas Neues und daran wollten wir teilhaben“,
erinnert sich die Mutter zweier Kinder, die seitdem zur Equipo, zum Team
von „Compa“ gehört.
Das Kulturzentrum befindet sich in Ciudad Satélite, einem der ältesten
Stadtteile von El Alto, jener auf 4.100 Meter gelegenen rasant wachsenden
Oberstadt von Boliviens Metropole La Paz. Mehr als eine Million Menschen
leben mittlerweile auf dem von schmucklosen, oft unverputzten
Backsteinbauten dominierten Hochplateau über dem engen Talkessel, in den
sich La Paz quetscht.
Unten, wo auch die Ministerien der Regierung liegen, also auf 3.600 Meter
Höhe, hat Iván Nogales Soziologie und Dramaturgie an der Universität
studiert, oben jedoch gelebt, gelehrt und gestaltet. Zeitlebens fand der
1963 geborene, stämmige Mann mit den optimistisch blickenden Augen das
Oben, eben El Alto, spannender als das Unten, La Paz. 1970, Iván war gerade
sieben, da starb sein Vater im Guerillakampf.
## Die Kraft der Kunst
In dessen Fußstapfen wollte auch der rebellische Sohn zunächst treten, aber
schließlich besann er sich auf die verändernde Kraft der Kunst. Und blieb
dabei. Begonnen Theater zu machen hat er Anfang der Neunziger mit Kids aus
einer Erziehungsanstalt auf der Straße in El Alto. Das Engagement der
Halbwüchsigen war groß und vieles, dass sie in El Alto und darüber hinaus
sahen, verarbeiteten sie kritisch in den Stücken.
Iván Nogales setzt auf Körpersprache, bringt Bilder auf die Bühne, die die
Essenz der Stücke auch ohne viel Sprache vermitteln können. Pantomime,
„klassisches“ Theaterspiel, Zirkustechniken und Masken kommen in den
Stücken vom „Teatro Trono“, das mehrfach im Rahmen der alljährlichen
Kinderkulturkarawane in Deutschland zu sehen war, zum Einsatz.
Einige hundert Kinder und Jugendliche sind über Kurse im „Compa“, aber auch
über Schulpartnerschaften dabei. Das eigenwillige Kulturhaus aus Ciudad
Satélite wirkt also ins Stadtviertel hinein. „El Mañana es Hoy – Die
Zukunft beginnt heute“ ist das Motto, unter dem im „Compa“ agiert wird,
sagt die Schauspielerin und Lehrerin Anita. Statt auf kommende
Veränderungen zu warten, legt das Team eben selbst tatkräftig Hand an,
bildet die gesellschaftliche Realität ab, bezieht Stellung zu
Umweltkonflikten, die auch in Bolivien zunehmen, und versucht den
kritischen Nachwuchs in El Alto zu sensibilisieren.
Dabei macht es dem „Compa“-Künstlerkollektiv, das aus rund einem Dutzend
Querdenkern besteht, Spaß, die bestehenden Verhältnisse unter die Lupe zu
nehmen und infrage zu stellen. Nicht das allgegenwärtige Gegeneinander,
sondern das Miteinander ist dabei eine Grundvorausetzung, die im „Compa“
gelebt werden soll.
In dem weitläufigen sechsgeschossigen Kulturzentrum, das in einer kleinen
bunten Gasse steht, wohnen auch eine ganze Reihe der „Compa“-Künstler. Hier
wird geprobt, aufgeführt, ausgestellt, und auch das kommunale Radio von
Ciudad Satélite hat sein Studio in dem bunten Gebäude.
## Recycelte Baustoffe
Das haben die Künstler mithilfe eines Statikers und eines Maurers im Laufe
der Jahre mit vielen recycelten Baustoffen aufgebaut. „Fast alle Fenster
und Türen stammen aus Abbruchhäusern von unten und leisten hier gute
Dienste“, sagt Nogales.
Gleiches gilt für so manchen Stahlträger, für Waschbecken und das Gestühl.
Die „Compa“-Künstler sind mit offenen Augen unterwegs und haben einen Blick
dafür entwickelt, was sich noch verwenden lässt. Iván Nogales sitzt gern
oben auf der Dachterrasse, wo irgendwann mal ein Café eröffnen soll. Dort
genießt er den Blick auf die eisbedeckten Berge rund um El Alto und brütet
über neuen Konzepten.
Die werden nötig sein, denn die kulturellen Rahmenbedingungen verändern
sich derzeit in Bolivien. Internationale Hilfsorganisationen ziehen sich
langsam zurück, aber die nationalen Institutionen stoßen nicht in die
Lücke. „Wir könnten mit mehr als hundert Schulen Projekte durchführen, aber
keine hat dafür einen Etat“, sagt Nogales, „also werden wir sicherlich
schrumpfen.“
Das Kulturzentrum hat in den letzten Jahren vor allem Gelder aus
Deutschland und Skandinavien akquiriert und konnte so seine Aktivitäten
über El Alto auch auf Städte wie Cochabamba und Santa Cruz ausweiten. Dafür
werden alsbald weniger Mittel zur Verfügung stehen, denn „Compa“ und andere
autonome Kulturzentren wie „Wayna Tambo“ oder „Chasqui“ erhalten bisher…
unregelmäßige Zuwendungen aus dem bolivianischen Kulturetat.
## Bildungspolitische Defizite
Damit sich dies ändert, hat man sich zusammengetan, um auf die Defizite der
nationalen Bildungs- und Kulturpolitik aufmerksam zu machen. „Cultura viva
comunitaria“, lebendige Stadtteilkultur, lautet die Parole, unter der nun
gemeinsam agiert wird. Einen ersten Kongress zur Stadtteilkultur in
Lateinamerika hat man im Frühjahr 2013 in El Alto durchgeführt und auch
gleich eine Zielgröße für die Förderung von Kultur von unten festgelegt:
„0,1 Prozent der nationalen Budgets“, erklärt Iván Nogales lächelnd. Das
sollten doch alle übrig haben für etwas mehr Lebensqualität in den
Stadtvierteln, so der Tenor des Kongresses, an dem Aktivisten aus
Brasilien, Kolumbien, Ecuador und vielen anderen Staaten Lateinamerikas
teilnahmen.
Dabei wurde nicht nur oben in El Alto, sondern auch unten in La Paz
vorgestellt, was lebendige Stadtteilkultur so alles auf die Beine stellt.
Konzerte mit Nina Uma und anderen Rappern aus El Alto genauso wie
Theateraufführungen auf der mobilen Lkw-Bühne des „Compa“ eine bunte,
klingende Kulturkarawane durch die Straßen von El Alto und La Paz. Kleine
poetische und pantomimische Stopps, die auf das Fehlen einer staatlichen
Kulturpolitik in den Stadtvierteln aufmerksam machen.
Theater ist dabei zwar auch weiterhin das wichtigste Agitations- und
Ausdrucksmittel, aber längst nicht das einzige. Im Laufe der Jahre hat sich
das Spektrum am „Compa“ erweitert. Das „Cinetec Trono“, ein Kinoprojekt,
ist entstanden und der eigene Radiosender. Der ist so etwas wie die Stimme
von El Alto. Mehrere Gruppen machen das Programm. Das „Compa“ ist aber auch
Treffpunkt, Werkstatt – und nicht zuletzt Museum.
Im Keller befindet sich eine Gedenkstätte für die bolivianische
Bergarbeiterbewegung. Der Nachbau eines Bergwerksstollens ist dort zu
sehen. Der Ort wird von Schulklassen genutzt, und „Compa“-Aktivisten wie
die Schauspielerin Anita machen die Kids in einer Art Rollenspiel mit den
Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kumpel bekannt. „Das war für viele ein
Stück Alltag, bevor sie nach El Alto kamen. Denn Menschen, die
hierherzogen, kommen meist aus den Minengebieten von Potosí oder Oruro“,
sagt die Schauspielerin.
18 Apr 2014
## AUTOREN
Knut Henkel
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