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# taz.de -- Wahlen in Bolivien: Symbol des Wandels
> Evo Morales stellt sich am Sonntag erneut zur Wahl. Ein Besuch in El
> Alto, wo Boliviens erster indigener Präsident viel Kredit hat.
Bild: Erntet noch immer skeptische Blicke: Adela Quispe in der Aymara-Tracht.
EL ALTO taz | Adela Quispe kramt in ihren Unterlagen. „Wo ist nur das
verfluchte Formular?“, murmelt sie, bevor sie endlich den Zettel aus einem
Stoß Papieren in ihrer Jutetasche fischt. Mit einem Lächeln eilt sie zum
Schalter der Steuerbehörde und quittiert das zustimmende Nicken des
Mitarbeiters mit einem erleichterten Seufzer. Endlich kann die Frau mit den
penibel geflochtenen Zöpfen, die unter dem Hut über den Rücken baumeln, die
Zahlungsaufforderung der Steuerbehörde begleichen. Wieder ein paar Monate
Ruhe.
„Früher musste ich jedes Mal runter nach La Paz, um die Gebühren zu
begleichen. Inzwischen ist alles viel einfacher, weil es hier eine
Dependance gibt“, erklärt die Alteña. So nennen sich die Bewohner El Altos,
der weitläufigen Zuwandererstadt, die auf einem Hochplateau oberhalb von La
Paz liegt. Boliviens Regierungssitz und Verwaltungsmetropole ist in einen
Talkessel gezwängt und über die Stadtautobahn mit El Alto verbunden. 15
Minuten Fahrzeit und drei Bolivianos, rund 30 Eurocent, kostet die kleine
Reise zwischen oben und unten.
Adela Quispe unternimmt sie nur noch selten. Hier oben in El Alto
unterrichtet sie an der öffentlichen Universität, hier leitet sie die
Jugend- und Sozialeinrichtung Chasqui, und hier lebt sie mit ihrer Familie.
„Unten in La Paz habe ich nur noch selten etwas zu erledigen“, sagt die
diplomierte Sozialarbeiterin und rückt die kleine, braune Melone mit dem
beigen Hutband zurecht, die keck auf ihrem Kopf sitzt.
Bombín wird dieser kreisrunde Filzhut mit der kurzen Krempe in Bolivien
genannt, und dort wird er vor allem von den Aymara-Frauen getragen –
zusammen mit Pollera und Manta, Faltenrock und Umhängetuch. Das ist die
traditionellen Tracht der größten Ethnie Boliviens, zu der auch Präsident
Evo Morales gehört – sowie die übrigen 90 Prozent der Einwohner El Altos.
## Die Pollera, eine Provokation?
Außerhalb von El Alto war die traditionelle Aymara-Tracht lange verpönt.
„An der Universität von San Marcos, wo ich Sozialarbeit studiert habe, war
ich die Einzige in einer Pollera“, erinnert sich Adela Quispe. Von den
Kommilitonen, aber auch von den Dozenten wurde sie gemobbt. Studentinnen,
die sie morgens aufforderten, ihnen die Wäsche zu waschen, hat es ebenso
gegeben, wie Dozenten, die ihr rieten, das Studium zu beenden.
„Als Aymara-Mädchen zu studieren, war schon etwas Besonderes. Es auch noch
in traditioneller Tracht zu tun, werteten viele schlicht als Provokation“,
sagt auch Martha Lulatz Corinz. Sie ist ehemalige Kommilitonin, Freundin
und heute ebenfalls Dozentin für Sozialarbeit an der Universität von El
Alto – doch anders als Adela Quispe trägt sie konventionelle Kleidung, das
mache vieles leichter, sagt sie. Für die verstohlenen Blicke, die sie auch
heute noch an der Uni erntet, wenn sie zur Vorlesung kommt, hat Adela
Quispe nur ein Schulterzucken übrig. „Ich habe den Weg für andere frei
gemacht, und die Pollera ist ein Teil von mir“, sagt sie bissig und schiebt
den Hut zurecht, um in den Seminarraum zu eilen.
Sie ist eine Vorkämpferin, eine Pionierin, und musste sich auch gegen den
Widerstand der eigenen Leute, des eigenen Vaters durchsetzen. Der hielt die
Universität für vertane Zeit und verweigerte ihr auch nur einen Boliviano
finanzielle Unterstützung. „Oft bin ich barfuß zur Uni gegangen, um die
Schuhe zu schonen“, erinnert sich die heute 42-Jährige, Jüngste von fünf
Töchtern einer Arbeiterfamilie aus El Alto. Aufgewachsen ist sie in einem
kleinen Hinterhof, rund zehn Minuten entfernt von der Plaza Ballivián.
An dem Platz starten die Minibusse nach La Paz und in andere Stadtviertel
von El Alto wie Río Seco oder Tranca. Hier begann Adela Quispe damals ihren
Abstieg nach La Paz zur Universität. Drei- bis viermal pro Woche
marschierte sie los, um zu lernen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte:
Sozialarbeit. „Ich wollte denen nacheifern, die mir geholfen hatten – den
Frauen von Gregoria Apaza.“ Die Frauenhilfsorganisation ist seit mehreren
Jahrzehnten in El Alto aktiv und versucht mit Kindergärten, Beratungs- und
Bildungsangeboten patriarchale Strukturen in den Haushalten der Stadt
aufzubrechen.
## Patriarchale Strukturen
Erst durch die Unterstützung der Frauen fasste Adela Quispe, damals 15
Jahre alt, den Mut, sich dem Vater zu widersetzen und noch einmal zur
Schule zu gehen. „Ich habe parallel gearbeitet, Früchte verkauft, damit er
keine Ausgaben hat. Schließlich war er sich sicher, dass ich nur besser
schreiben lernen wollte, um meine Liebesbriefe besser ausschmücken zu
können“, sagt sie und rollt schmunzelnd mit den dunkelbraunen Augen.
Eine solide Ausbildung für Frauen war in El Alto Mitte der 1990er Jahre
nicht vorgesehen. Wissbegierige Mädchen wie Adela Quispe und ihre Freundin
Martha Lulatz Corinz, die heute beide an der Universität von El Alto
SozialarbeiterInnen ausbilden, fielen aus dem Rahmen. Adela gleich doppelt,
weil sie sich unerschütterlich zu Pollera, Manta und Bombín bekannte.
Die Tracht gehört schlicht zu ihr, egal, ob sie zur Steuerbehörde, an die
Uni oder zum Kinder- und Jugendzentrum Chasqui geht, das sie mit gegründet
hat. „Für Kinder und vor allem für die Mädchen wird in der bolivianischen
Gesellschaft immer noch viel zu wenig getan“, sagt Quispe, die als
Direktorin alle Abläufe und Angebote koordiniert.
Dabei hat sich schon einiges geändert, denn spätestens seit dem „Gaskrieg“
von 2003 sind die Frauen in El Alto aus dem Schatten der Männer getreten.
Damals gab es Proteste gegen den Verkauf der bolivianischen Gasreserven
nach Argentinien. „Wir haben den Widerstand gegen den Präsidenten und seine
Leute koordiniert“, erinnert sich Adela Quispe. „Ohne uns wären die
Proteste hier und anderswo nicht so erfolgreich gewesen.“
Ein paar Häuserblöcke weiter, an der Tranca, steht noch immer die Ruine der
alten Tankstelle, wo ein Panzer der Armee ausbrannte. Tiefe Gräben hatten
die Nachbarschaftskomitees damals ausgehoben, um die Wohnstraßen vor den
eindringenden Panzern zu schützen, die Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada
gegen die Bevölkerung in Marsch gesetzt hatte. „Das war Krieg – El Alto
gegen den raffgierigen Präsidenten“, erklärt Adela Quispe und lacht.
Schließlich haben die Alteños gewonnen.
## Der gewonnene Gaskrieg
Der Gaskrieg war so etwas wie die Initialzündung der indigenen
Selbstbestimmung in Bolivien. Denkmäler wie das der Cholita auf der Plaza
Ballivián wären vor 2003 in Bolivien kaum denkbar gewesen. Die Statue der
Aymara-Frau, die die Wiphala, die Flagge der indigenen Völker der Anden,
schwingt, ist landesweit als Symbol des indigenen Widerstands bekannt.
Diese Welle der Empörung und des Aufbruchs hat im Januar 2006 letztlich
auch Evo Morales an die Macht gebracht, der als erster indigener Präsident
Boliviens in die Geschichte eingegangen ist.
Geschätzte 70 Prozent der Bolivianer gehören der indigenen Bevölkerung an.
Ende 2009 wurde Morales mit absoluter Mehrheit wiedergewählt und darf nur
deshalb für eine dritte und letzte Amtszeit kandidieren, weil er während
seiner ersten Amtszeit eine neue Verfassung ausarbeiten ließ.
Der Exgewerkschaftsführer der Kokabauern aus dem Chapare, einer Region nahe
der Stadt Cochabamba, steht mit seinem Kabinett für die Industrialisierung
des Landes – langfristig geht es darum, durch Export von Mineralien und
Erdgas mehr Devisen zu erwirtschaften. Kritiker werfen ihm genau das vor:
dass er zu sehr auf Export setzt, zu wenig Rücksicht auf die Umwelt nimmt
und zu wenig nachhaltige Produktionsverfahren favorisiert. Für die Wahlen
am 12. Oktober gilt er dennoch als sicherer Sieger.
## Kommunale Strukturen
Der Präsident genießt in El Alto besondere Sympathien, und dafür hat er
einiges getan. Nicht nur die Steuerbehörden, sondern auch andere staatliche
Dienstleister sind mittlerweile nach El Alto gezogen. Kommunale Strukturen
sind entstanden. Durch funktionierende Administration und den Handelsboom
der letzten Jahre hat die Stadt einen Entwicklungssprung gemacht.
Doch weil Evo, wie der Präsident im ganzen Land genant wird, zu wenig für
die Bildung getan hat und zu Großprojekten neigt, will Adela Quispe ihre
Stimme trotzdem lieber der grünen Partei geben. „Die setzt auf
Nachhaltigkeit, das gefällt mir besser“, sagt sie. Doch die gerade
eingeweihte Seilbahn, die El Alto seit ein paar Wochen mit La Paz
verbindet, eines von Evos Großprojekten, findet auch sie großartig.
Durch die Seilbahn, den Teleférico, ist El Alto näher an La Paz
herangerückt. „Es ist nicht mehr die arme, dreckige Vorstadt von einst“,
erklärt Adela Quispe stolz und bezahlt ihr Ticket am Schalter. Heute hat
sie das erste Mal seit Monaten wieder in La Paz zu tun – ein
Ehemaligentreffen an der Universität San Marcos steht an. Da darf Boliviens
erste diplomierte Sozialarbeiterin in einer Pollera nicht fehlen.
11 Oct 2014
## AUTOREN
Knut Henkel
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