# taz.de -- Debatte Altenpflege: Demenz ist auch Anarchie | |
> Für die Pflege von Altersverwirrten soll es mehr Geld geben. Doch die | |
> Schuldgefühle der Babyboomergeneration gegenüber den Eltern bleiben. | |
Bild: Elternbetreuung bietet auch eine Chance zur Versöhnung | |
Alltag in einem Pflegeheim: Die alte Dame liegt hilflos im Bett, sechsmal | |
am Tag werden die Windeln gewechselt, viermal am Tag wird ihr Essen | |
gereicht, meistens Grießbrei. Am Morgen wird sie gewaschen und bekommt | |
einen frischen Schlafanzug. Pflegestufe III, den höchsten Pflegegrad, würde | |
man der alten Dame am Ende ihres Lebens eigentlich zugestehen. Doch der | |
Gutachter in dem Münchner Seniorenheim vergab nur Pflegestufe II – und | |
entsprach damit bereits dem sich abzeichnenden Trend der Pflegereform. | |
Mehr Geld für Demente, möglicherweise etwas weniger Geld für körperlich | |
völlig Hilflose, dahin geht der Trend der Pflegereform, und wer sich den | |
Alltag in Seniorenheimen anschaut, versteht auch sofort, warum. Die | |
körperliche Hilflosigkeit ist – so grausam das klingen mag – für das | |
Personal eine Entlastung. Die Patientin braucht keine Hilfe mehr beim | |
Klogang, beim selbstständigen Waschen, muss nicht mehr beruhigt werden, | |
wenn sie aufgeregt durch die Gänge streift. Ganz anders sieht es bei der | |
Zimmergenossin der Dame in dem Beispiel aus dem Münchner Pflegeheim aus. | |
Frau H., die Zimmergenossin, ist auch dement, kann aber noch gehen. | |
Allerdings nur sehr wackelig, mit dem Rollator. Sie braucht Begleitung, | |
jemanden, der verhindert, dass sie fällt. Auch wenn sie auf ihrem Stuhl im | |
Zimmer sitzt und aufstehen will, gerät das Personal in Alarmbereitschaft. | |
Ein Sturz könnte einen Oberschenkelhalsbruch zur Folge haben. Frau H. wird | |
ermahnt, sitzen zu bleiben. Diese Anordnung der Pflegerinnen aber versteht | |
sie nicht, außerdem lässt man sich im Alter nicht gern herumkommandieren. | |
Was macht man nun mit Frau H.? Ihr Medikamente geben, sodass sie gar nicht | |
mehr auf die Idee kommt, herumzulaufen? Genug Pflegerinnen abzustellen, die | |
ihr bei ihren Gehversuchen helfen, ist nicht möglich. Auch nicht, wenn dank | |
der Pflegereform auf der Station vielleicht noch eine zusätzliche Stelle | |
geschaffen wird. In Fällen wie dem von Frau H. – die Heime sind voll davon | |
– werden meist Medikamente gegeben zur Sedierung, die das Fortschreiten der | |
Demenz rapide beschleunigen. Ob dieser Trend durch eine Pflegereform | |
verändert werden kann, ist mehr als fraglich. | |
## Demente erzeugen Schuldgefühle | |
1,4 Millionen Demente gibt es in Deutschland, Tendenz steigend. Die | |
Pflegeversicherung soll ab dem Jahr 2015 rund 2,4 Milliarden Euro mehr | |
zahlen, und eine Milliarde davon wird in die Verbesserung der stationären | |
Pflege fließen. Das ist wirklich gut, doch es ist eine Illusion, zu | |
glauben, dass man damit Demente umfassend betreuen könnte. Wir müssen uns | |
vielmehr in der Versorgung der Altersverwirrten auch mit | |
Unzulänglichkeiten, Improvisationen und Schuldgefühlen abfinden. Das hat | |
nichts mit Unmenschlichkeit zu tun, im Gegenteil. Demenz stellt unser | |
Wertesystem der Selbstverantwortung und Selbstdisziplin, der Sicherheit und | |
Nächstenliebe infrage. Denn Demenz ist immer auch Anarchie. | |
Mobile Demente bringen ihre Umgebung an ihre Grenzen. Auch eine polnische | |
Pflegekraft im Privathaushalt kennt die Angst, dass etwas passiert, wenn | |
der oder die Verwirrte im Haus herumgeht, die Herdplatte anschaltet, die | |
gefährliche Treppe allein hinaufwanken oder sich ausgerechnet vom obersten | |
Regalbrett die schöne grüne Vase herunterangeln möchte. Altersverwirrte | |
strapazieren die Nerven der Umgebung. Das erfahren auch die Töchter und | |
Söhne aus der Babyboomer-Generation 50 plus, die mit der Unzulänglichkeit, | |
den Risiken und den Schuldgefühlen leben, wenn sie pflegebedürftige Eltern | |
mitbetreuen. | |
## Altenbetreuung wird zum Partythema | |
Laut Forschungsberichten des Gesundheitsministeriums engagieren sich die | |
berufstätigen Kinder durchaus in der Pflege. Sie möchten aber nicht im | |
gleichen Haushalt wie die Eltern wohnen und wollen externe Hilfe, die den | |
Hauptanteil der täglichen Betreuung übernimmt. Gerade in | |
Doppelverdienerhaushalten in den Metropolen ist es nicht möglich, in die | |
ganztägige Pflege voll mit einzusteigen. | |
Die Zwangslagen sind ein Grund, warum bei manchen gemeinsamen Abendessen | |
der Babyboomer die Betreuung der tüdeligen Eltern zum Hauptthema wird. Was | |
soll man tun? Ist eine osteuropäische Pflegekraft bezahlbar? Wobei man sich | |
fragt, was eigentlich aus deren alten Eltern in der Heimat wird. Reicht die | |
Hilfe von der Sozialstation aus? Soll man die gebrechliche Mutter in ein | |
Pflegeheim in der Nähe holen? Oder fühlt sie sich da nicht wohl? | |
## Versöhnung mit den gebrechlichen Eltern | |
Die Demenz bietet aber auch eine Chance für die Nachkommen. Die Babyboomer | |
sind eine Generation, die sich in jungen Jahren teilweise explizit von den | |
Eltern abgewandt hat. Wenn die hochaltrige Mutter oder der Vater nun in die | |
eigene Kindheit zurückfällt und hilflos wird, erscheinen sie begreifbarer, | |
fassbarer, überwindlicher. Das kann auch Befreiung und Versöhnung bedeuten. | |
Demenz zu erleben stellt die Vorstellung infrage, dass man die eigene | |
Biografie kontrollieren könnte. Man denkt an die Zukunft, wenn man den | |
Vater oder die Mutter in der „Demenz-WG“ besucht. In ihren Räumen steht das | |
übliche Demenzmobiliar: ein nostalgisch anmutendes Kastenradio, vielleicht | |
noch eine alte Pfaff-Nähmaschine. Fotos von Marika Rökk und Heinz Rühmann | |
hängen an der Wand, vom CD-Spieler ertönt die „Moldau“ von Smetana. Die | |
BewohnerInnen sitzen herum und warten aufs Essen. | |
## Abba in der Demenz-WG | |
Und wer weiß, vielleicht sitzen wir in einigen Jahrzehnten nach der x-ten | |
Pflegereform selbst in einer Verwirrten-WG und kochen mit einer Betreuerin | |
Spaghetti mit Pesto als gelungenen Beweis für „aktivierende Pflege“. An der | |
Wand hängen dann Fotos von Madonna und den Stones. Aus dem Lautsprecher | |
ertönt Musik von Abba. Durchs breite Fenster scheint die Morgensonne so | |
schön herein. Und wir wundern uns, warum in der WG jeden Tag neue Bewohner | |
am Tisch sitzen, von denen wir überzeugt sind, sie noch nie gesehen zu | |
haben. | |
Der Umgang mit Demenz ist nicht nur eine finanztechnische, sondern auch | |
eine kulturelle Aufgabe für die Gesellschaft – wir müssen die Dysfunktion | |
akzeptieren. Eine Pflegereform dazu war überfällig. | |
25 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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