Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Demenz und Pflege: Unvergessliche Momente
> Wie gehen Angehörige und Pfleger richtig mit Demenzkranken um? Märchen
> können die Verängstigten beruhigen.
Bild: Rund 500.000 Menschen mit einer Demenzerkrankung leben hierzulande schon …
BERLIN taz | Echte Damen kommen pünktlich. Frau Wagner*, eine ältere Frau
mit frisch frisiertem Haar und glitzerndem Pulli, betritt den warmen Raum.
Sie geht jede Woche zu dem ungewöhnlichen Treffen. Die Projektleiterin eilt
lächelnd auf sie zu: „Schön, dass Sie zu unserer Märchenstunde kommen!“
Frau Wagner blickt sie freundlich an, schüttelt ihre Hand und sagt: „Schön,
Sie kennenzulernen.“
Projektleiterin Diane Dierking stockt nur eine Sekunde. Dann erstrahlt ihr
Lächeln wieder, und sie geleitet Frau Wagner an ihren Stammplatz. Eine
zweite Zuhörerin kommt: „Mein Name ist Baumgarten“, sagt die alte Dame.
„Baum und Garten. Der Baum ist im Garten. Kann man nicht vergessen.“
Dierking nickt.
Was man alles vergessen kann, weiß die 53-Jährige sehr genau. Dierking,
groß, blond, perfekte Umgangsformen, arbeitet seit mehr als einem Jahr mit
Demenzkranken. Ihr ist klar, dass bislang nichts die schleichende
Zerstörung des Gehirns aufhalten kann. Binnen zehn Jahren nach Beginn der
Erkrankung sterben die meisten Menschen. Rund 500.000 Menschen mit einer
Demenzerkrankung leben hierzulande schon heute in Pflegeeinrichtungen. Weil
die Zahl der Alten wachsen wird, wird auch die der Erkrankten steigen.
Dierking und ihre Mitstreiter vom Projekt „Es war einmal... Märchen und
Demenz“ suchen nach einem Weg, um die Folgen des Zerfalls zu lindern: für
die Betroffenen, ihre Verwandten, Freunde und Pfleger. Ihr Weg führt sie
ins Märchenland.
## Die Reise beginnt
Die Reise beginnt, als sechs Zuhörerinnen, Frauen jenseits der 70, ihren
Platz im Halbrund gefunden haben. Drei von ihnen sitzen stumm im Rollstuhl.
Sie sind in der dritten und letzten Phase der Demenz. Was sie mitbekommen,
lässt sich nur schwer ermessen. Die anderen drei zeigen nach Wochen der
Gewöhnung Zeichen des Erinnerns. Sie ahnen, sie waren schon mal hier.
Führerin ins Märchenland ist eine Frau im prächtigen, bodenlangen
Brokatmantel. Das Kleidungsstück als Zeichen: Das hier ist keine normale
Veranstaltung des Wohn- und Pflegeheims, dem Katharinenhof am Preußenpark
in Berlin-Wilmersdorf. Und die Mantelträgerin, eine schlanke Frau mit
braunem Haar, ist keine Pflegerin.
Die Schauspielerin Marlies Ludwig kommt jede Woche, um tief verankerte
Erinnerungen zu wecken. So unvergesslich, dass selbst die Demenz sie noch
nicht zerstört hat. Die 56-Jährige sagt langsam und klar: „Wir können jetzt
anfangen, und wie immer mit...“ Kunstpause, Blick in die Runde. Eine
Zuhörerin lächelt und sagt: „,Es war einmal...'.“
„... ein in treuer Husar!“ Das ruft Frau Schmöckwitz in den Raum, mit
fester Stimme und im schnarrenden Tonfall eines preußischen Unteroffiziers.
Ludwig kennt das schon. Jede Märchenstunde verläuft anders. Es gibt gute
und schlechte Tage. An schlechten Tagen zeigen mehrere Patienten, so nennen
Pflegewissenschaftler das, „herausforderndes Verhalten“. Dann stehen sie
auf, gehen herum, geraten in Angst, Depressionen oder werden aggressiv. An
guten Tagen redet nur eine: Frau Schmöckwitz.
## Als das Wünschen noch geholfen hat
Marlies Ludwig beginnt zu erzählen: „In den alten Zeiten, als das Wünschen
noch geholfen hat...“ Es ist das Grimmsche Märchen „Der Froschkönig und d…
eiserne Heinrich“. Der freie Vortrag und die direkte Ansprache sind
wichtig. Läse Ludwig aus einem Buch vor, würde sich ihr Publikum lust- oder
verständnislos abwenden. Und auf die Formeln wie „In den alten Zeiten“
kommt es an. Es sind Beschwörungsformeln, die sich besonders tief ins
Gedächtnis eingegraben haben. In den alten Zeiten, als die Zuhörerinnen
noch Kinder waren.
„Die Prinzessin“, sagt Märchenerzählerin Ludwig, „spielte den ganzen Tag
mit einer goldenen Kugel...“
„Na, die hat ja wat jemacht!“, ruft Frau Schmöckwitz. Warum sie das tut,
darüber lässt sich nur mutmaßen. Demenzkranke suchen nach Ordnung im Chaos
ihrer Wahrnehmung. Und was sich mit Worten herabsetzen lässt, verliert an
Schrecken. Auch Frau Schmöckwitz' Ausrufe sind Beschwörungsformeln.
„...da fiel die goldene Kugel in den Brunnen...“
## „Dat is' ja 'n Ding!“
„Na, dat is' ja 'n Ding!“ Frau Schmöckwitz platziert ihre Rufe an
Wendepunkten der Geschichte. Märchen sind meist klar strukturiert. Das
erleichtert die Orientierung, auch wenn der genaue Inhalt verschwimmt.
Unbeirrt erzählt Ludwig weiter. Die meisten Zuhörerinnen wurden zwischen
1930 und 1940 geboren. Die Macher haben Geschichten ausgewählt, die zu
Kinderzeiten der Patienten besonders populär waren: allen voran die Kinder-
und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Die beiden Berliner
verfehlen selten ihre Wirkung.
Nicht jedes Märchen ist etwas für Demenzkranke. Hänsel und Gretel,
ausgesetzt im dunklen Wald, erinnert Zuhörer an ihre eigene Lage. Ihre
Furcht vor Orientierungslosigkeit würde nicht gelindert, sondern verstärkt.
„...und verschwand in ihrem Schloss...“
„Na, dat is ja `n Ding!“
## Wer hört gebannt zu?
Fünf der sechs Zuhörerinnen wirken aufmerksam. Nur die schmalste, im
Rollstuhl Versunkene hat die Augen geschlossen. Aber sie hebt und senkt
immer wieder leicht ihren Kopf. Ein paar Meter entfernt sitzen
Projektleiterin Dierking und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, vor sich
einen Bogen Papier. Darauf stehen mimische Ausdrücke zum Ankreuzen: Wer
hört gebannt zu? Wer wirkt ängstlich, froh, apathisch?
„'... weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Quak.'“
„Quak!“, ruft Frau Schmöckwitz.
In einem Pilotprojekt haben Dierking und ihre Mitarbeiter bis März 2013 in
zwei Pflegeeinrichtungen Märchen vortragen lassen. Nicht, um dauerhaft das
Denkvermögen zu verbessern, das ist unmöglich. Die Märchenstunden sollen
Emotionen wecken. Das Gefühl, das sich einst einstellte, als man vorm
Schlafengehen einem geliebten Menschen lauschte - und man sich beschützt
wusste: Am Ende würde alles gut werden. Worte statt Psychopharmaka. Das
Projekt wird fortgeführt.
„... da blieb der Prinzessin nichts anderes übrig, als ihn herein zu
lassen.“
Eine Zuhörerin, die bislang stumm gelauscht hat, sagt zustimmend: „Ja,
ja...“ Sie erkennt etwas wieder, nickt, schaut ihre Nachbarinnen an.
Normalerweise spricht die alte Frau dazwischen. Heute ist sie ruhig. Es ist
ein guter Tag. Nur Frau Schmöckwitz hört nicht auf.
„... der Froschkönig sagte: ,Jetzt lass uns in dein Schlafgemach gehen.'“
„Na, dat is' ja 'n Ding!“
## Die Normalität simulieren
Frau Schmöckwitz braucht Floskeln, um sich und anderen Normalität zu
simulieren. Andere wiederum führen Unterhaltungen so perfekt, dass erst
langsam klar wird, dass hinter der Fassade wenig erhalten geblieben ist.
Eine Frau mit Handtasche, noch gut zu Fuß und zum Plaudern aufgelegt, hat
vor Beginn der Stunde erzählt, sie könne nächste Woche leider nicht kommen.
Sie heirate in Australien. Sie heiratet jede Woche in Australien.
„Als er aber herabfiel“, sagt Ludwig, „da war er kein Frosch, sondern ein
Königssohn mit schönen und freundlichen Augen...“
Und Frau Schmöckwitz sagt – nichts mehr. Die alte Dame hört, die Augen
geweitet, einfach zu. Mehr als 20 Minuten dauert der Vortrag schon. Für
Demenzkranke eine lange Zeitspanne, die Reise ins Märchenland hat gewirkt.
Wie lange die Entspannung anhält, lässt sich nur schwer ermessen. Die
Pfleger wissen, was los ist, wenn ein Bewohner immerzu von einer „goldenen
Kugel“ redet. Dann hat das Märchen etwas in den Menschen berührt.
Dierking und ihre Mitarbeiter sind nicht die Ersten, die Demenzkranken
Märchen vortragen. Aber sie nehmen für sich in Anspruch, deren Wirkung als
Erste im deutschsprachigen Raum wissenschaftlich zu erforschen. Die
Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit fördert das Projekt, ebenso das
Bundesfamilienministerium und zwei Pflegedienstleister: die Agaplesion
Bethanien Diakonie und die Agaplesion Markus Diakonie. Außerdem die
Katharinenhof-Gruppe, zu der das Pflegeheim gehört.
## Die heilsame Wirkung von Märchen
Organisiert wird es von "Märchenland", einer gemeinnützigen GmbH mit Sitz
in Berlin. Ihr Ziel: Krankenkassen sollen die Erzählrunden in ihren
Leistungskatalog aufnehmen, Pflegekräfte in der Ausbildung über die
heilsame Wirkung von Märchen lernen.
Die Geschichte geht zu Ende: "Noch einmal und noch einmal krachte es auf
dem Weg", sagt Ludwig, "und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche,
und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich
absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war."
Frau Schmöckwitz ruft laut: "Na, dat is' ja 'n dickes Ding!"
"Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Die Stunde
ist vorüber. Projektleiterin Dierking und Märchenerzählerin Ludwig
verabschieden sich so herzlich von den sechs Damen, wie sie sie begrüßt
haben. Dann setzen sie sich. Sie sind zufrieden. Eine gute Stunde.
## „Wir senden und hoffen, dass es Empfänger gibt“
„Wir“, sagt Dierking, "sind aus den geburtenstarken Jahrgängen Ende der
50er, Anfang der 60er. Wenn unsere Eltern noch leben, dann ist Demenz
häufig ein Thema." An jedem der 1,4 Millionen Demenzkranken in Deutschland
hingen fünf bis zehn Menschen, die ihnen nahe stehen. Dierking erlebte als
Kind, wie ihre Großmutter über zehn Jahre immer dementer wurde. Später sah
sie Ähnliches bei ihrer Schwiegermutter.
„Wir machen ein Angebot“, erklärt Dierking. „Wir senden und hoffen darau…
dass es einen Empfänger gibt. Und wenn wir eine Verbindung schaffen, ist
das so beglückend, wie ich es sonst selten finde.“ Die Märchen helfen auch
denen, die sie erzählen.
Zum Schluss erzählen Dierking und Ludwig noch eine Geschichte. Diesmal ist
es eine eigene. Ein Mann, schon schwer dement, besuchte mit seiner Frau
eine Märchenstunde. Im Anschluss begleiteten sie das Paar zur Tür. Dort
drehte sich der Mann noch einmal um, und sie sahen, wie er alle Kraft
zusammen nahm. Ein Aufbäumen, um einen Kontakt zwischen sich und der Welt
zu knüpfen, vielleicht zum letzten Mal. Hervor brachte er ein einziges
Wort: „Schön.“
* Namen aller Patientinnen sind geändert
31 Dec 2013
## AUTOREN
Matthias Lohre
## TAGS
Grimms Märchen
Alten- und Pflegeheime
Märchen
Demenz
Altern
Pflegekräftemangel
Familie
Sterbehilfe
Russland
G8-Gipfel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte Altenpflege: Demenz ist auch Anarchie
Für die Pflege von Altersverwirrten soll es mehr Geld geben. Doch die
Schuldgefühle der Babyboomergeneration gegenüber den Eltern bleiben.
Kommentar Entlohnung häusliche Pflege: Liebe statt Geld
Das Verfassungsgericht stellt klar, dass Angehörige für häusliche Pflege
weniger bekommen als Fachkräfte. Alles andere wäre eine Utopie gewesen.
Sterbehilfe in Belgien: Auch Kinder und Demenzkranke
Belgien will die Sterbehilfe ausweiten. Ärzte sollen auch Minderjährige und
Demente töten dürfen. Patientenschützer sprechen von Bankrotterklärung.
Demenzkranke in Russland: Hilfe nur für die Elite
In Russland sind knapp zwei Millionen ältere Menschen von Demenz betroffen.
Doch das Thema wird tabuisiert, Angehörige sind auf sich gestellt.
G-8-Gipfel zu Demenz in London: Eine weltweite Volkskrankheit
Die G-8-Staaten wollen bei der Erforschung für Demenzkrankheiten stärker
kooperieren. Bis 2025 wollen sie ein wirksames Medikament entwickeln.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.