# taz.de -- Geschichten aus dem Prenzlauer Berg: Der Kiezfürst | |
> Bernd Holtfreter sprengte mit seinem Wesen die engen Grenzen der DDR. Er | |
> wehrte sich gegen Gentrifizierungen, als kaum einer wusste, was das ist. | |
Bild: 2002, beim 100. Jubiläum des Stadtbads Oderberger Straße im Prenzlauer … | |
BERLIN taz | Bernd Holtfreter, Kiezfürst der Ostberliner Oderberger Straße, | |
passte nicht in die DDR. Er war dynamisch, voller Ideen. Alles an ihm | |
sprengte dieses Kleinteilige, in das die DDR ihre Bürger zu zwängen | |
versuchte. Und doch war der Rostocker ein gelernter DDR-Bürger. Er lebte | |
den Kiez, wusste zugleich die Bürokratie des Prenzlauer Berges eigenwillig | |
zu nutzen. Heraus kam dabei eine eigene Melodie, die gelegentlich sogar die | |
Verhältnisse und die Herrschenden zum Tanzen brachte. | |
Vor allem gelang Bernd Holtfreter, im letzten Jahr der Honecker-DDR 38 | |
Jahre alt, mit seinen Mitstreitern bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, was | |
zuvor noch nie in der DDR gelungen war: Sie setzten einen oppositionellen | |
Kandidaten durch. | |
Holtfreter war immer auch ein Pionier. Hoch aufgeschossen, eilte er mit | |
weiten Schritten heran, meist gut drauf, mitreißend. Er war informeller | |
Herausgeber, Chefredakteur, Marketingchef der Zeitung „die Anderen“, und | |
Holtfreter wirkte als Motor des BasisDruck-Verlages. Das war im Frühjahr | |
1990, als die Ostberliner Bürgerbewegten im Haus der Demokratie saßen, der | |
ehemaligen SED-Kreisleitung in der Friedrichstraße. Gregor Gysi hatte das | |
Gebäude herausgerückt, wohl auch um der Bürgerbewegung zu gefallen. | |
In den Jahren zuvor lebte Bernd Holtfreter eher unstet. Manch einer hätte | |
ihn verdächtigt, eine gescheiterte Existenz zu sein. Am Ende seiner | |
Kfz-Lehre, so erinnert sich sein Bruder Jürgen, händigten sie ihm den | |
Gesellenbrief nicht aus, weil er sich die langen Haare nicht abschneiden | |
wollte. Seither jobbte er mal als Filmvorführer, Theaterankleider, | |
Landvermesser. Solche Karrieren teilte er freilich mit anderen, die | |
angeeckt waren und im Prenzlauer Berg landeten. Der Physiker und | |
Oppositionelle Gerd Poppe beispielsweise, den er aus Kindertagen in Rostock | |
kannte. | |
## Kein klassischer Oppositioneller | |
Holtfreter war eher gefühlsmäßig links. Er landete nicht bei der | |
klassischen Opposition, die sich oft unter dem Dach der Kirche | |
zusammenfand. Eigentlich eignete er sich eher für eine Heldenfigur in einem | |
proletarischen Filmepos der kommunistischen Tauwetterperiode – nur ohne | |
Parteibuch. | |
Holtfreter bot sich schließlich der SED als WBA-Vorsitzender an. WBA: der | |
Wohnbezirksausschuss sollte sich um soziale Belange, die Verbesserung des | |
Wohnumfeldes und letztlich um Ordnung und Sicherheit kümmern und eng mit | |
der Volkspolizei und der SED zusammenarbeiten. In der Regel waren es | |
Parteirentner, die den WBA stellten. Wegen des Bevölkerungswandels im | |
Prenzlauer Berg entstand aber ein Vakuum. Das war die Stunde von Bernd | |
Holtfreter und seinen Freunden. | |
Um zu verstehen, was das daran ungewöhnlich war, muss man einen Schritt | |
zurückgehen. Der alte Stadtbezirk Prenzlauer Berg war zum legendären | |
Prenzlberg geworden, weil die angestammten Bewohner in die Platte zogen. | |
Jüngere, unkonventionelle DDR-Bürger rückten nach. Dadurch gerieten die | |
Herrschaftsinstrumente der SED im Wohngebiet in Gefahr. Eigentlich sollte | |
in jedem Haus eine Hausgemeinschaftsleitung für die soziale Kontrolle | |
sorgen, darüber auf Wohnblockebene der WBA. | |
Die SED war über Holtfreters Ansinnen zunächst entsetzt und wollte das Feld | |
keinem Parteilosen überlassen. Schließlich musste sie nachgeben, um den WBA | |
56, so hieß sein Arbeitsbereich, überhaupt besetzen zu können. Holtfreter | |
agierte „rührig, aber er war kein Platzhirsch“, erinnert sich der | |
Weggefährte Dietmar Halbhuber. | |
Zahlreiche Kiezbewohner zogen mit, zählten die verrotteten Schornsteine, um | |
den Instandhaltungsbedarf zu messen. Sie betreuten sozial gefährdete | |
Familien, und ihre Selbsthilfebrigaden begrünten die Hinterhöfe. Der | |
„begabte Autodidakt“ Holtfreter spürte Gesetzeslücken auf und vermittelte | |
junge Zuzügler in leerstehende Wohnungen. Zum kulturellen Zentrum | |
entwickelte sich der „Hirschhof“ inmitten des Quartiers. | |
## Selbst die Volkspolizei sprang Holtfreter bei | |
Die Stadtbezirksoberen misstrauten den selbstorganisierten | |
Filmvorführungen, Lesungen, Ausstellungen und Festen. Holtfreter hielt | |
dagegen, der Hof sei „grüne Oase und durch Veranstaltungen | |
Kommunikationsort“. Ausgerechnet die örtliche Volkspolizei sprang ihm bei, | |
weil sie die integrative Wirkung zu schätzen wusste. | |
Die eigentliche Politisierung kam als Reaktion auf Abrisspläne in dem Kiez. | |
Seit 1987 war ruchbar geworden, dass die SED plante, Altbausubstanz in der | |
Mitte Berlins abzureißen. Ein Modellprojekt für die DDR sollte die Substanz | |
ersetzen, ein „Führungsbeispiel“ sollte das werden, mit dem der Berliner | |
SED-Chef Schabowski bis zum nächsten SED-Parteitag, 1990, brillieren | |
wollte. | |
Holtfreter sammelte Informationen, die in einer Diktatur wie der DDR nicht | |
einfach zu haben waren. Er war besessen gründlich: hier kleine | |
Zeitungsausschnitte, dort Gekritzeltes auf Karteikarten, Papiere. Auch | |
SED-Institutionen, denen die Bauplänen ebenso wenig behagten – die | |
Bauakademie etwa –, versorgten ihn mit Informationen. Holtfreter schaute | |
auch darauf, was im Westteil der Stadt passierte. Dort hatten | |
Hausbesetzungen und Krawalle zum Umdenken in der Altbausanierung geführt. | |
„Er war fasziniert von der behutsamen Stadterneuerung“, erinnert sich sein | |
Bruder Jürgen. Der lebte in Westberlin inmitten der Szene und musste seinem | |
Bruder bei Besuchen in Ostberlin immer berichten. | |
## Die Vorboten der Wende | |
Die WBAs organisierten ein Treffen mit Baufachleuten. Sie machten den | |
eigentlich internen Termin publik. Die kontroverse Bürgerdebatte im | |
Kreiskulturhaus „Prater“ wurde zum Vorboten des Herbstes 1989. | |
Mit den Kommunalwahlen eskalierte die Sache. Die WBAs waren im System der | |
DDR eigentlich die unterste Struktur der Nationalen Front, des | |
Zusammenschlusses der Parteien und Massenorganisationen, die die | |
SED-beherrschten Wahlen steuerte. Holtfreter und Co nahmen einfach | |
wörtlich, was im Gesetz stand. Sie schlugen zwei eigene Kandidaten vor. Die | |
offiziellen Vertreter der Nationalen Front reagierten mit „ungläubigem | |
Entsetzen“, so erinnert sich ein Mitstreiter. | |
Die SED wollte durchzocken, 150 Kiezbewohner demonstrierten vor dem Rathaus | |
Prenzlauer Berg. Die WBAs drohten, die Wahlen zu boykottieren. Insgesamt 78 | |
Personen, darunter Bernd Holtfreter, unterschrieben mit vollem Namen. | |
„Bernd hatte keine Angst vor der Stasi,“ sagt Kerstin Flock, eine Gefährtin | |
von damals. | |
Eine Wahlveranstaltung im Prater war mit 400 Personen brechend voll. Die | |
SED beugte sich schließlich dem sich aufbauenden Druck und setzte zwei | |
Alternativen als Kandidaten der Gewerkschaft FDGB mit auf die Liste. Die | |
Zahl der Gesamtmandate wurde von 220 auf 222 erhöht, damit die | |
Stimmenarithmetik des Blocks erhalten blieb. | |
Zu dieser Zeit war die Stasi schon hinter Holtfreter her, weiß sein Bruder | |
heute, nachdem die Akten geöffnet sind. Aber das Prinzip von | |
Furchtlosigkeit und Öffentlichkeit siegte. „Wir haben uns einfach nicht um | |
die Stasi gekümmert, wir haben die Sachen einfach offen gemacht“, erläutert | |
das ehemalige WBA-Mitglied Leon Bayer die damalige Strategie. | |
Anders als mit einer gehörigen Portion Chuzpe ist der Erfolg auch kaum zu | |
erklären. Einer der beiden Kandidaten, die schließlich zu Stadtverordneten | |
gewählt werden, war Matthias Klipp, heute Baudezernent in Potsdam. Damals | |
hatte er Verbindungen zur kirchlichen Opposition und wurde von der Stasi im | |
sogenannten Operativen Vorgang „Atom“ bearbeitet. Seine Nominierung war | |
etwas, was es dank der Stasi in der DDR eigentlich nicht geben sollte. Der | |
Erfolg ließ manchen übermütig werden. Radikale Künstler präsentieren ein | |
Wahlplakat mit drei Affen, die ein leeres Oval tragen: eine Anspielung auf | |
das SED-Parteiabzeichen. | |
Auch die aufmüpfigen WBAs beteiligten sich auf ihre Art am Protest gegen | |
die undemokratischen Wahlen. Doch wenn Holtfreter mit der Kirchenopposition | |
in einen Topf geworfen wurde, reagierte er süßsauer. Er wollte den WBA | |
nicht aufs Spiel setzen. Im Unterschied zu den Kirchengruppen kontrollierte | |
der WBA 56 die Wahlen nicht von außen, er war an der Wahldurchführung und | |
Auszählung offiziell beteiligt. | |
## Die Unterwanderung war aufgegangen | |
Es war typisch für Holtfreters Temperament, dass er davon ausging, dass | |
eine satte Hälfte der Wahlberechtigten die Einheitsliste der SED ablehnen | |
würden. Tatsächlich wurden es immerhin 13,89 Prozent Neinstimmen. Da | |
Dutzende Wahlbeobachter in anderen Wahllokalen unterwegs waren, konnte | |
erstmals nachgewiesen werden, dass das offizielle Wahlergebnis von 1,86 | |
Prozent Neinstimmen gefälscht war. „Bernd und ich lächeln uns an“, schrieb | |
ein Mitstreiter in sein politisches Tagebuch, die Unterwanderungsstrategie | |
war aufgegangen. | |
Die Wahlen gaben der Opposition Auftrieb. Im Oktober wendeten sich gar 20 | |
WBA-Mitglieder an die Abgeordneten der Volkskammer der DDR. Sie forderten, | |
den für die Wahlen verantwortlichen Egon Krenz nicht als Staatsoberhaupt zu | |
wählen. „Bitte tun Sie das Ihre, um verloren gegangenes Vertrauen wieder | |
herzustellen!“ | |
Wo solche Briefe geschrieben wurden, war das Ende der DDR nicht mehr weit. | |
Holtfreter wollte eigentlich den neuen BasisDruck-Verlag erweitern, einen | |
Radiosender aufmachen. Aber das rein privatwirtschaftliche Kalkül war seine | |
Sache nicht. Irgendwann liefen diese Projekte nicht mehr. Auch der Kiez | |
veränderte sich. Der Immobilienmarkt in der Hauptstadt sprang an, | |
Gentrifizierung drohte. | |
Holtfreter nahm schließlich ein Angebot der PDS an und rückte auf deren | |
offener Liste in das Berliner Stadtparlament ein. „Das haben viele seiner | |
Freunde nicht verstanden“, sagt sein Bruder. Aber irgendwie passte es zum | |
linken Pragmatismus des Bernd Holtfreter, der sich um die mögliche Symbolik | |
dieses Schrittes wenig zu scheren schien. | |
Bevor Bernd Holtftreter 2003 starb, wurde er zum parlamentarischen | |
Exponenten der Mieterbewegung: „Wir bleiben alle“ – so lautete der | |
Schriftzug auf einem Logo, das er selbst entworfen hatte. Es ist kein | |
Zufall, dass das Akronym „WBA“ lautet. | |
Gerahmt ist es von einem windschiefen Haus, das an den morbiden Charme der | |
Oderberger Straße in Prenzlauer Berg erinnert. | |
6 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Christian Booss | |
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