# taz.de -- Gefälschte Kommunalwahl 1989: Der Anfang vom Ende der DDR | |
> Vor 20 Jahren manipulierte die SED die Kommunalwahlen in der DDR. Der | |
> SED-Kader Günter Polauke half damals beim Wahlbetrug. | |
Bild: Nach der Wahlfälschung: DDR-Staatschef Erich Honecker. | |
Günter Polauke hat einen kräftigen Händedruck und wirkt jünger als 60 | |
Jahre. Viel jünger sogar. Er ist seit 14 Jahren Präsident eines großen | |
Berliner Sportvereins, der fast bankrott war und dessen Blüte sich seinem | |
energischen Engagement verdankt. Die ersten beiden deutschen Medaillen in | |
Peking, die haben Sportler vom TSC Berlin geholt, sagt er stolz. Günter | |
Polauke ist ein Macher. Und Sozialdemokrat. Den SPD-Politiker Wolfgang | |
Thierse nennt er "einen Freund". Das war vor 20 Jahren, am 7. Mai 1989, | |
anders. Damals waren Leute wie Thierse für den aufstrebenden SED-Kader | |
Polauke Gegner. | |
Der 7. Mai 1989 ist ein schöner, sonniger Tag. Polauke wartet im Rathaus | |
Treptow, einem Stadtteil Ostberlins. Er ist der jüngste | |
Bezirksbürgermeister in Berlin. Ein Aufsteiger mit lupenreiner | |
DDR-Karriere. Mit 18 SED-Eintritt, drei Jahre Grenzsoldat. Ende der 80er | |
gilt er als Protegé von Günter Schabowski, der jüngere Parteifunktionäre um | |
sich schart. Leute wie Polauke, der SED treu ergeben, aber nicht so | |
vergreist wie der Durchschnitt. | |
Kurz nach 18 Uhr an jenem 7. Mai nimmt Bürgermeister Polauke im | |
holzgetäfelten Rathaussaal die versiegelten ausgezählten Wahlurnen aus 80 | |
Stimmbezirken entgegen. Er weiß, dass diese Kommunalwahl gefälscht sein | |
wird. Genauer: Er wird diese Wahl fälschen. Das Ergebnis, knapp 99 Prozent, | |
exakt bis zur zweiten Stelle hinter dem Komma vorgeschrieben, liegt in | |
seiner Schublade. Anweisung von oben. Der SED-Kreissekretär hat ihn | |
gefragt, ob er in die Praxis der Wahlfälschung "eingewiesen" sei. Er war | |
eingewiesen. Doch Polauke hat Bauchschmerzen. Er weiß, dass er sich nach | |
DDR-Recht strafbar macht. "Wir waren dazu erzogen, nichts zu hinterfragen" | |
sagt er heute. | |
Die "echten" Wahlergebnisse liegen zweimal über 90 Prozent: etwa 95 Prozent | |
Wahlbeteiligung, etwa 95 Prozent Ja für die Liste der Nationalen Front. | |
Echt sind auch die freilich nicht. Denn es gibt die Sonderwahllokale, die | |
sowieso 100 Prozent melden. Es gibt Drohungen an Bürger, die nicht wählen | |
wollen. Kirchenleute, Oppositionelle und Ausreiseantragsteller sind ohnehin | |
von den Wahllisten gestrichen. | |
Polauke zögert. Er hat seit Wochen nachgedacht, was er tun soll. "Ob ich | |
das mache oder jemand anders, es kommt auf das Gleiche heraus", denkt er. | |
Aber es ist illegal. Und überflüssig. Denn 90 Prozent sind doch auch genug. | |
Polauke sagt zu seinem Stellvertreter: "Ruf im Magistrat an und sag, dass | |
Treptow das reale Ergebnis meldet." Der Stellvertreter wird blass, sagt | |
aber mannhaft: "Ja, Günter, das machen wir." Doch die oben bleiben hart. | |
Haltet euch an die Vorgabe, lautet die Order. | |
Um 21 Uhr tritt die Wahlkommission zusammen, um das Ergebnis abzusegnen. | |
Polauke zögert. "Wir machen das morgen", sagt er der Kommission, in der | |
verrückten Erwartung, dass die oben ihm doch noch grünes Licht geben. Am | |
nächsten Morgen unterschreibt er das Wahlprotokoll. | |
Zehn Kilometer Luftlinie entfernt warten am 7. Mai 1989 um 18 Uhr in einem | |
Raum der St.-Stephanus-Stiftung zu Berlin-Weißensee acht Leute. Sie bilden | |
das Weißenseer Koordinationskomitee zur Kontrolle der Stimmenauszählung bei | |
den Kommunalwahlen. Der Diakon Mario Schatta, damals 26, ist einer von | |
ihnen. "Wir haben befürchtet, dass die Staatssicherheit in die Stiftung | |
eindringt, uns festnimmt und das ganze Unternehmen zum Scheitern bringt" | |
erinnert er sich heute. Doch nichts passiert. Die Anspannung weicht | |
ausgelassener Freude. | |
Mario Schatta ist seit 1981 in der demokratischen Opposition aktiv. Mit 18 | |
trägt er das "Schwerter zu Pflugscharen"-Emblem am Hemd. Mit SED und | |
Staatsmacht hat er nichts am Hut. Er wird mehrfach festgenommen und | |
verprügelt. Schatta erklärt bei der Musterung zur Armee, er will | |
"Bausoldat" werden, die in der DDR zugelassene Form der | |
Wehrdienstverweigerung. Als die Einberufung kommt, wird er zum | |
Totalverweigerer. Aus nicht aufklärbaren Gründen bleibt ihm das Gefängnis | |
erspart. 1983 gründet er den Friedenskreis Weißensee. Die Friedensfreunde | |
verteilen Flugblätter gegen die Nachrüstung in beiden deutschen Staaten. | |
Das war nach DDR-Recht ein schweres Delikt. | |
Ende der 80er will Schatta mehr machen als Friedensarbeit unter dem Schirm | |
der Kirche. Denn Gorbatschows Perestroika strahlt auch in die DDR. Viele | |
DDR-Bürger denken, dass es so nicht weitergehen kann. Deshalb beschließen | |
die Weißenseer, die Kommunalwahl zu kontrollieren. Die Aktion | |
Wahlbeobachtung ist 1989 in der Bewegung keineswegs unumstritten. Viele in | |
der Opposition plädieren für einen totalen Boykott der Wahl, Schatta nicht. | |
"Ich habe damals nichts dagegen gehabt, wenn ein überzeugter Anhänger der | |
Nationalen Front für die Einheitsliste stimmt. Was mich abstieß, war die | |
Unaufrichtigkeit." | |
Die Wahlbeobachtung läuft perfekt. "Wir haben es geschafft", so Schatta, | |
"dass in 67 der 68 Wahllokale in Weißensee je drei Bürger die öffentliche | |
Auszählung beobachtet haben." Die Ergebnisse treffen vor 19 Uhr in der | |
St.-Stephanus-Stiftung ein. Um halb acht steht fest: 90 Prozent Ja-, 10 | |
Prozent Neinstimmen. Es gibt 2.156 Neinstimmen in Weißensee, doch laut | |
offizieller Zählung sind es nur 1.011. "Wir haben nachgewiesen, dass die | |
SED Wahlbetrug begangen hat", so Schatta. Die Ergebnisse wurden dann am | |
Abend des 7. Mai zur "Kirche von Unten" gebracht. | |
"Wir wollten mit der Aufdeckung des Wahlbetrugs das SED-Regime | |
delegitimieren, und zwar bis in die Reihen der SED hinein", erinnert | |
Schatta. Und genau das hat die Opposition erreicht. Sie verunsichert auch | |
überzeugte Regimeanhänger, auch Leute wie Günter Polauke. | |
Schatta erstattet nach dem 7. Mai beim Staatsanwalt Anzeige wegen | |
Wahlfälschung. Natürlich erfolglos. Denn die SED-Führung hat die | |
Staatsanwaltschaften angewiesen, alle Klagen abzuschmettern. Der Weißenseer | |
Friedenskreis demonstriert an jedem 7. der folgenden Monate, drangsaliert | |
von der Stasi, auf dem Alexanderplatz. | |
Günter Polauke weiß 1989 von den Protesten auf dem Alex. Er kann Leute wie | |
Mario Schatta auch verstehen. "Aber ich dachte damals, dass ihre Kritik | |
objektiv dem Imperialismus nutzt." | |
Als am 9. November 1989 die Mauer aufgeht, ist SED-Genosse Polauke | |
deprimiert. "Ich habe doch an die DDR geglaubt" sagt er. Anfang Dezember | |
1989 muss er der Stadtbezirksversammlung, wegen der Wahlfälschung, Rede und | |
Antwort stehen. Am 5. Dezember tritt er als Bürgermeister zurück. Der | |
Staatsanwalt ermittelt gegen ihn wegen Wahlfälschung. Polauke tritt aus der | |
SED aus - damit der Prozess gegen ihn der SED nicht schadet. Das war ein | |
letztes bizarres Echo des gelernten kommunistischen Ethos, dass die Partei | |
alles und der Einzelne nichts zählt. | |
Mit diesem letzten Treuebeweis beginnt Polaukes langsame Loslösung von der | |
DDR, vom Realsozialismus, von dem, was er selbst so lange war. Anfang 1990 | |
verteidigt sich Egon Krenz im DDR-Fernsehen gegen den Vorwurf der | |
Wahlfälschung. Er habe am 7. Mai nur die Zahlen vorgelesen, die der | |
Computer ausspuckte. Dass es übereifrige Genossen an der Basis gab, die | |
Zahlen geschönt haben, das sei nicht seine Schuld. Polauke ist wütend - es | |
war doch genau umgekehrt. Am nächsten Tag steht er vor Egon Krenz Haus und | |
klingelt: "Guten Tag, ich bin einer von denen, über die Sie gestern im | |
Fernsehen geredet haben." Das war, so Polauke heute, "mein Weg, mich von | |
der Partei zu lösen." Und er will mit den Feinden von gestern reden. In den | |
90ern baut er Gesprächskreise mit Kirchenvertretern auf. Schmollen, sagt | |
er, ist nicht seine Art. Manchmal habe er sich schon gefragt, ob er "ein | |
Wolf im Schafspelz ist". | |
1995 wird er wegen der Wahlfälschung zu sechs Monaten auf Bewährung | |
verurteilt. "Das war ein gerechtes Urteil", sagt er. Nach DDR-Recht wäre er | |
härter bestraft worden. "Ich würde nie von Siegerjustiz sprechen." | |
Beruflich geht es in den 90er-Jahren bergauf. Polauke kann organisieren. Er | |
wird Chef einer Lebensmittelfiliale mit 25 Millionen Mark Jahresumsatz. | |
Zuvor bekennt er sich vor der Betriebsversammlung zu seiner Geschichte. Er | |
macht Karriere, wird Präsident des Berliner TSC und 2001 Mitglied der SPD | |
in Treptow, gegen den erbitterten Widerstand einiger SPD-Genossen. "Der | |
Kreisvorsitzende hat mich gefragt, ob ich eintrete, sonst hätte ich das | |
nicht gemacht", sagt Polauke. Die Ost-SPD hat in den 90er-Jahren kaum | |
SED-Mitglieder aufgenommen. Ein historischer Fehler, meinen viele, denn | |
damit hat die SPD die PDS erst stark gemacht. | |
Die Verwandlung des DDR-Funktionärs Polauke in den Bundesbürger Polauke war | |
ein Prozess ohne jähe Wendepunkte und Brüche. Doch es gab Stufen. Eine, | |
vielleicht die wichtigste, war der 7. Mai 1989. Ein moralisches Desaster, | |
das zu verdrängen den Genossen Polauke viel Energie kostete. | |
Polauke kann reden. Er kann Bleischweres diskursiv auflösen, verflüssigen. | |
Auch die eigene Schuld. "Den 7. Mai 1989", sagt er, "den werde ich nie | |
los." | |
Mario Schatta ist ein in sich ruhender, selbstbewusster Mann. Ein Ironiker, | |
der gerne lacht. In den 90er-Jahren war er als Parteiloser für die | |
Bündnisgrünen in der Weißenseer Bezirksversammlung. Doch Politiker, sagt | |
er, "wollte ich nie werden." In den 90ern studierte er Psychotherapie, | |
heute hat er eine Praxis für "Supervision". Mit dem, was 1989 geschah, hat | |
er sich sehr lange nicht mehr beschäftigt. Das hat sich geändert. Seit sein | |
mittlerweile erwachsener Sohn von ihm wissen wollte, wie es damals war. | |
7 May 2009 | |
## AUTOREN | |
S. Reinecke | |
C. Semler | |
## TAGS | |
Günter Schabowski | |
DDR | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Günter Schabowski gestorben: Worte, die Geschichte wurden | |
Er schrieb Geschichte – mit wenigen Worten auf einer Pressekonferenz. | |
Günter Schabowski löste den Mauerfall aus. Nun ist der einstige | |
SED-Funktionär gestorben. | |
Geschichten aus dem Prenzlauer Berg: Der Kiezfürst | |
Bernd Holtfreter sprengte mit seinem Wesen die engen Grenzen der DDR. Er | |
wehrte sich gegen Gentrifizierungen, als kaum einer wusste, was das ist. |