Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bürgerkrieg in Syrien: Die Eingeschlossenen von Aleppo
> Stündlich fallen Bomben in Aleppo nieder, die alles in Brand stecken. Es
> herrscht das Chaos in der Stadt und der Tod. Eine Reportage.
Bild: Auf der Flucht vor Fassbomben, die überall und jederzeit über Aleppo ni…
ALEPPO taz | 30 Jahre alt. Ein schmächtiger Typ, schwarze Haare,
Schnurrbart. Wie viele hier. Auf dem Foto trägt er ein weißes Hemd und
sieht aus wie ein Provinzangestellter. Aber es ist nicht sein Äußeres,
weswegen Abu Maryam, der Anführer der Freitagsdemonstrationen, den Syrer
von heute verkörpert. Vom Regime verfolgt, wurde er von den Rebellen
bekämpft. Und am Ende von Dschihadisten entführt.
Es gibt nur einen Ort in Aleppo, der in diesen Wochen der gnadenlosen
Bombardierungen ausgespart blieb: das Hauptquartier von al-Qaida. Auch wenn
sie eigentlich gegen Assad kämpfen, sind sie in Wirklichkeit sein bester
Verbündeter. Nicht nur, weil die USA bekanntlich zögern, in Syrien zu
intervenieren – aus Angst, ein Regime gegen das nächste einzutauschen,
Assad gegen die Scharia.
Sondern vor allem, weil Assad sich im Dezember zunutze machte, dass sich
die in tausend Milizen zersplitterten Rebellengruppen gegenseitig
bekämpften – inzwischen haben sie sich gegen al-Qaida zusammengeschlossen.
Assad begann seine Offensive, um Aleppo zurückzuerobern.
Wer in die Stadt will, muss sich durch einen etwa 15 Kilometer breiten
Frontabschnitt kämpfen, der derzeit im Industriegebiet von Sheik Najjar
beginnt. Das Gebiet war einst so fest in der Hand der Rebellen, dass man
hier die Büros des Revolutionsrats und die provisorische Verwaltung von
Aleppo einrichtete, die optimistisch Rohrleitungen verlegen, Schulen
wiedereröffnen, sogar neue Bäume pflanzen ließ.
## Explosive Fässer
Heute dagegen rast man mit Vollgas durch ein Feuer von Granatwerfern,
Kalaschnikows, Flugzeuge am Himmel, um so schnell wie möglich, Schutz in
einem der Wohnviertel zu suchen – das heißt, unter den Fassbomben. Fässer
voll mit Benzin und Sprengstoff, die von Hubschraubern abgeworfen werden.
Sie regnen dutzendweise vom Himmel. Jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde,
immer und überall, und sie können jeden treffen, Zivilisten wie Kämpfer.
Der einzige Unterschied ist, dass an der Front Kampfflugzeuge eingesetzt
werden, die präziser zielen. Denn Rebellen und Regimeanhänger sind sich oft
so nah, dass sie einander laut beschimpfen, während sie aufeinander
schießen.
Früher kamen Flugzeuge und warfen Bomben ab. Zwei-, dreimal pro Woche, dann
verschwanden sie wieder. Heute kreist der Hubschrauber unermüdlich,
jählings fallen Bomben, zwei- bis dreimal pro Stunde. Bei unserem letzten
Treffen hatte Abu Maryam gesagt: „Ich weiß, dass ich für euch ein Symbol
bin. Der am meisten verfolgte Aktivist von allen. Die Rebellen, die
Islamisten, wer auch immer, sie können versuchen, uns aufzuzwingen, was
immer sie wollen: Wir sind nicht mehr bereit, zu gehorchen. Ich bin immer
noch da, und deswegen bin ich ein Symbol für das Syrien von heute.“
Tatsächlich ist es heutzutage schwer, den Krieg überhaupt noch zu
definieren, weil gar nicht mehr gekämpft wird. In Aleppo stirbt man, sonst
nichts – jetzt, wo alles nur noch explodiert und einstürzt. Doch in dieser
von den Syrern so genannten „Republik von Bustan al-Qasr“ sind alle noch
da. Beim Marsch zu Ehren von Abu Maryam. Am Vortag traf die Nachricht ein.
Der von den Dschihadisten entführte Anführer der Freitagsdemonstrationen
ist hingerichtet worden.
## Ein besonderer Stadtteil
Bustan al-Qasr ist eine Art Stadt in der Stadt. Sie liegt in Schutt und
Asche wie der Rest der Stadt, ist aber voller Menschen. Es heißt, die Stadt
sei leer, aber 80.000 Menschen halten sich noch in Aleppo auf, die Ärmsten
der Armen, diejenigen, die nicht mal die 150 Dollar für ein Auto an die
türkische Grenze aufbringen können. Sie kauern verängstigt ihren Häusern.
Aber nicht so hier in Bustan al-Qasr. Da sind heute alle auf der Straße,
für Abu Maryam.
Die Front lappt hier und da herein, manchmal stößt man auf eine Barriere
aus Reifen und Kanistern, was bedeutet, dass von der anderen Seite
geschossen wird. Diesseits markieren die Kanister das Tor eines
Fußballfelds. Die Bewohner des Viertels haben sich seit Beginn der
Revolution selbst organisiert. Sie haben eigene Schulen, eine Ambulanz. Sie
verteilen Wasser und Strom. Es gibt einen Essenstisch für die Ausgebombten.
Das war das anfängliche Projekt der lokalen Koordinationskomitees, mit
denen in Syrien alles begonnen hatte, noch bevor sich die Freie Syrische
Armee bildete.
Es macht keinen Sinn, Assad auf dem Feld zu trotzen“, erklärte damals Abu
Maryam, „auf dem er uns ohnehin überlegen ist: der Gewalt. Denn es ist
offensichtlich, dass er militärisch gewinnen wird. Aber nicht zahlenmäßig.
Wir können wählen. Kugeln gegen Raketen. Oder 22 Millionen gegen einen.“
## Häuser ohne Keller
Drei Jahre und 150.000 Tote später, stirbt man hier genauso: willkürlich.
Eine Explosion wie aus dem Nichts, ein Blitz, ein Windstoß, und die Luft
fängt an zu brennen – ein Gemisch aus Flammen, Blut und Granatsplittern –,
und in dem Staub, zwischen den Schreien, nur diese Fleischfetzen, die
verkohlten Kinder. Es gibt keinen Schutz, die Häuser sind nicht
unterkellert. Und die Rebellen verfügen nur über alte sowjetischen
Maschinengewehre, die Doshka, etwa so effektiv wie eine
Schreckschusspistole. Die einzige Abwehr hier ist das schlechte Wetter. Die
einzige Zuflucht das Glück. In Aleppo stirbt man plötzlich, einfach so. Die
Menschen graben mit bloßen Händen, es gibt keine Bagger und ohnehin kein
Benzin mehr, keinen Strom, sie graben im Lichtschein ihrer Handys, ihrer
Feuerzeuge; die zwischen Pfeilerresten eingeklemmten Leichname starren sie
an.
Nichts ist grausamer als der erste Bombeneinschlag. Wenn jemand unter dem
Schutt noch am Leben ist, und du hörst Stimmen, Schreie. Die Toten in
Aleppo gibt es immer im Doppelpack: Der Zweite ist derjenige, der
instinktiv hingelaufen ist, um zu helfen, und von der zweiten Bombe
getroffen wird.
Die Rebellen waren in Bustan al-Qasr nie beliebt. Das Symbol ihrer
Herrschaft befindet sich hier, am Eingang zu Karaj al-Hajez, besser bekannt
als die „Todesallee“. Aleppo ist zweigeteilt, und dies ist der einzige
Punkt, wo man in den westlichen Teil der Stadt, der sich unter Assads
Kontrolle befindet, gelangen kann – während seine Heckenschützen auf der
Lauer liegen. „Für uns ist dieser Übergang lebenswichtig“, erklärt Abdul
S*., ein Ingenieur der jetzt mit Früchten handelt.
„Weil niemand mehr ein Einkommen hat. Im Westen sind die Preise höher.
Meine einzige Chance ist, dort ein Kilo Orangen zu verkaufen, um mir hier
zwei kaufen zu können. Sowie den ganzen Rest. Benzin. Medikamente. Die
Rebellen haben zuerst eine Schutzgebühr verlangt. Dann haben sie den
Transport von Lebensmitteln verboten. Monatelang haben sie den Westen der
Stadt umzingelt und versucht, ihn auszuhungern, damit die Armee aufgibt.“
Genauso, wie es Assad mit seinen Luftangriffen rund um Damaskus macht. „Auf
diese Weise haben die Rebellen auch uns ausgehungert.“ Abdul S. hat eine
Frau und fünf Kinder. „Wenn wir nichts mehr haben, werden wir Pappe kauen.“
## Die Hisbollah stützt Assad
In einem Bericht vom 24. April hat die UNO eingeräumt, dass ihre
humanitären Hilfskonvois, trotz Resolution 2139 des Sicherheitsrats, die
einen ungehinderten Zugang zum Land vorsieht, fast alle in den vom Regime
kontrollierten Gebieten landen. Da die UNO laut Statut mit der einzigen
anerkannten Regierung zusammenarbeiten muss, und das ist die in Damaskus,
hat sie sich entschieden, den vom Regime auferlegten Einschränkungen in der
Bewegungsfreiheit nicht zuwiderzuhandeln – offiziell, um die Sicherheit
ihrer Mitarbeiter nicht zu gefährden. „Alle versuchen, in den Westen zu
fliehen. Der Hunger, die Bomben, es gibt keine Alternative“, sagt Abdul S.
Die Rebellen haben den Übergang zugemauert.
„Die Bombenangriffe sind kein Zeichen der Stärke, im Gegenteil“, meint
Mahmud A.*, der für eine NGO arbeitet. Er versucht gerade, aus einem roten
Gewürz Farbe für eine Fahne herzustellen. „Assad erobert Syrien nicht
zurück – er unterwirft es sich. Und zerstört es dabei.“ Ein Mörser schl�…
etwa 300 Meter weiter ein, Mahmud A. beachtet ihn kaum. „Assad hält nur
deswegen stand, weil er von der libanesischen Hisbollah unterstützt wird.
Aber früher oder später wird sie sich zurückziehen. Und wir sind dann immer
noch da.“
Laut dem US-amerikanischen Geheimdienst unterstützen etwa 10.000 Kämpfer
aus dem Ausland die Rebellen und noch mal so viele das Regime. Das macht 10
Prozent aller Kämpfer aus. Sie sind besser ausgerüstet, besser trainiert:
Sie haben das Sagen. „Ihr fragt euch alle, ob das Ausland intervenieren
soll. Und bemerkt dabei gar nicht, dass die Intervention in Syrien seit
Monaten läuft“, sagt Mahmud A.
## Alle kommen zum Gedenkmarsch
Der Krieg scheint hier niemanden mehr zu interessieren. Keiner diskutiert
über Politik, Verhandlungen, Strategien, neue Allianzen. Der Fernsehsender
Aleppo today lässt die Zahl der Toten und Fassbomben wie Börsenkurse über
den Bildschirmrand laufen. Das Programm sendet sonst Seifernopern.
„Es geht nicht mehr um humanitäre Hilfe“, sagt Ahmed L.*, auch ein
NGO-Mitarbeiter, „es geht nur noch um Evakuierung.“ Ein Hubschrauber kreist
oben, Männer mit einer Kalaschnikow und saudischem Akzent tauchen auf, die
den Marsch zu Ehren von Abu Maryam bewachen sollen, damit nichts
Blasphemisches anklingt. Ahmed L. muss den Kleinlaster mit dem Megafon und
den Lautsprechern schieben. In Bustan al-Qasr gibt es kein Benzin mehr.
Aber alle sind sie da. Alle sind sie auf der Straße. „Syrien gehört den
Syrern. Man sollte sie evakuieren, nicht uns.“
* Namen geändert.
Aus dem Italienischen Sabine Seifert
9 May 2014
## AUTOREN
Francesca Borri
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
Aleppo
Syrischer Bürgerkrieg
Kobani
Kirgistan
Syrische Flüchtlinge
Lakhdar Brahimi
Philipp Ruch
Philipp Ruch
Schwerpunkt Syrien
Homs
Homs
Homs
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Flüchtlinge
Adopt a Revolution
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kobani und der Kampf gegen den IS: Der Krieg im Krieg
7.000 Zivilisten sind noch in Kobani. Kurdische Milizen kontrollieren
wieder 80 Prozent der Stadt. Das restliche Syrien ist für sie weit weg.
Von Kirgistan in den Dschihad: Anwerbung im Hinterzimmer
Es gibt viele Gründe, nach Syrien zu gehen: Glaube, Armut, Propaganda.
Akbar Marsalow wurde vom eigenen Onkel angeworben.
Syrer in Deutschland: Bitte verlassen Sie dieses Land
Ahmad Khaled kam aus Syrien nach Berlin, weil er seinen schwerkranken
Kindern helfen wollte. Nun soll er nach Italien abgeschoben werden.
UN-Gesandter für Syrien: Brahimi gibt auf
Fast zwei Jahre mühte sich Lakhdar Brahimi, eine Lösung für Syrien zu
finden. Doch am Verhandlungstisch findet sie sich offenkundig nicht. Nun
tritt Brahimi zurück.
Kommentar Guerilla-Aktion für syrische Kinder: Darf man helfen?
Die Fake-Initiative zur Rettung syrischer Kinder nimmt die potenziellen
Helfer in die Verantwortung. Die allgemeine Gleichgültigkeit ist weit
vorangeschritten.
Aktionskünstler fordern Regierung heraus: Ihr Kinderlein, kommet!
Ein „Soforthilfeprogramm des Bundes“ soll 55.000 syrischen Kindern in
Deutschland eine Heimat geben. Nur die Bundesregierung weiß davon noch
nichts.
Syrische Flüchtlinge im Libanon: Als Arzt im Grenzgebiet
Viele Flüchtlinge aus dem Nachbarland brauchen eine medizinische
Versorgung. Ein kleines Krankenhaus nimmt sich der Mammutaufgabe an.
Bürgerkrieg in Syrien: Eine bittere Entscheidung
Die Rebellen haben die „Hauptstadt der Revolution“ verlassen. Sie wurden
ausgehungert - noch ein Grund, die Kriegsverbrechen Assads zu ahnden.
Bürgerkrieg in Syrien: Rebellen vor Abzug aus Homs
Nach zwei Jahren Blockade, Hunger und Beschuss haben die Aufständischen mit
Regierungsvertretern verhandelt. Die Umsetzung steht noch aus.
Temporärer Waffenstillstand in Homs: Assad erobert „Revolutionshauptstadt“
Die syrischen Kriegsparteien haben sich auf eine kurzfristige Waffenruhe in
Homs geeinigt. Die Aufständischen sollen die Stadt verlassen.
Kommentar Wahl in Syrien: Propaganda auf Erfolgskurs
Scheinbar neutral berichten die Medien über die anstehende
Präsidentschaftswahl. Das ist zynisch, denn im Krieg kann es keine Wahl
geben.
Wahlen in Syrien: Krieg und Chaos im ganzen Land
Das Assad-Regime sieht sich auf dem Vormarsch. In vielen Landesteilen
finden weiter Kämpfe statt. An Wahlen ist da nicht zu denken.
Fluchtrouten von Syrien in die EU: Wege aus dem Krieg
Von Syrien in die Europäische Union zu gelangen, ist teuer und gefährlich.
Und für die Flüchtlinge gibt keine Gewähr, dass sie einen sicheren Ort
erreichen.
Interview mit Adopt a Revolution: „Mitleid hilft niemandem in Syrien“
Als der Arabische Frühling begann, reiste Elias Perabo zum ersten Mal durch
Syrien. Er fand Kontakt zu Aktivisten, denen er mit der Initiative "Adopt a
Revolution" seitdem von Berlin aus den Rücken stärkt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.