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# taz.de -- Die Fußball-WM und ihre Gegner: Public Viewing als Protestbewegung
> Parallel zum „Fanfest“ findet ein WM-kritisches „ManiFest“ statt. Ein
> Dossier beschreibt das Vorgehen der Polizei als „Krieg gegen den inneren
> Feind“.
Bild: Vielleicht erreichen hier bald WM-kritische Bilder das Publikum
RIO DE JANERO taz | Fußballfeste sehen anders aus. Gegen die nicht für die
WM qualifizierten Serben gelang der brasilianischen Nationalmannschaft nur
ein mickriges 1:0 im letzten Testspiel. Statt das Publikum auf die Heim-WM
einzustimmen, sorgte die Seleção dafür, dass die 67.000 Zuschauern im
Morumbi-Stadion von São Paulo murrten.
Sogar Stürmerstar Neymar beschwerte sich anschließend über das undankbare
Publikum, alle sollten doch bitteschön „geschlossen hinter Brasilien, der
Nationalmannschaft stehen“. Nur der Siegtreffer von Fred, der im Strafraum
schon zu Fall gebracht worden war und in Gerd-Müller-Manier den Ball noch
ins Tor schlenzte, ließ etwas Stimmung aufkommen.
Kämpferisch hingegen die Atmosphäre auf dem Cinelândia-Platz im Zentrum von
Rio de Janeiro. Hier fand der Testlauf des „ManiFests“ statt, die
Alternative zum Public Viewing der Fifa-Veranstaltung „Fanfest“. Aktivisten
des WM-kritischen „Comitê Popular da Copa“ prangerten auf dem „Fifa-frei…
Territorium“ die Kollateralschäden der WM an, Obdachlose und geräumte
Favela-Bewohner forderten am Mikro ihre Rechte ein.
Die offiziellen Fifa-Sponsoren waren unerwünscht. „Fußball gucken wir auch,
alles andere ist hier anders“, sagte der Sprecher und forderte das Publikum
auf, das Bier bei den vom WM-Spektakel ausgeschlossenen ambulanten Händlern
zu kaufen. „Nicht einmal der Begriff ’Brasil 2014‘ darf benutzt werden, da
das WM-Sondergesetz sogar Teile unserer Sprache unter Copyright gesetzt
hat“, so der Kommentar zur Halbzeitpause.
## Journalisten und Aktivisten in der Mehrzahl
Großen Zulauf fand das ManiFest noch nicht, Journalisten und Aktivisten
waren in der Mehrzahl, unter ihnen Daniel Cohn-Bendit, der gerade mit einem
Filmteam durchs Land tourt. Einige Passanten blieben stehen, andere wandten
sich ab, als sie merkten, dass der riesige Fernseher mitten in einer
Protestveranstaltung stand.
Vor Spielbeginn wurde das neueste Dossier des Komitees zu den
Menschenrechtsverletzungen in Rio de Janeiro im Zuge der WM vorgestellt.
Die aktuellen Zahlen: 4.772 Familien wurden für den Umbau des Stadions,
wegen zahlreicher Verkehrsprojekte und aus Spekulationsinteressen aus ihren
Wohnungen vertrieben. Weiteren 4.900 droht bis zu den Olympischen Spielen
2016 das gleiche Schicksal. Insgesamt rund 35.000 Menschen, die dann in
Außenvierteln, manchmal über 50 Kilometer weit entfernt in
Ersatzsozialwohnungen leben werden.
Die Sicherheitspolitik wird als „Instrument zur Durchsetzung der urbanen
Neuordnung“ interpretiert. Allein 400 Millionen Euro wurden investiert in
den Kauf von „angeblich nicht-tödlichen Waffen zum Einsatz gegen
Demonstranten oder für High-Tech-Überwachungssysteme“. Die Besetzung der
Armenviertel durch die Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia
Pacificadora) in Rio sehen die Autoren als Teil des „Krieges gegen einen
inneren Feind“.
21 Favela-Bewohner töteten die Uniformierten seit 2011 im Rahmen der
Befriedung, hinzu kommen mehrere Tote vor und beim Einmarsch der
UPP-Einheiten. Weitere Kapitel über verfehlte Verkehrspolitik,
Umweltschäden, Arbeitsbedingungen, die Elitisierung des Sports, mangelnde
Transparenz, die horrenden öffentlichen Ausgaben sowie Widerstandsformen
und Alternativen füllen die 170 Seiten des dritten Dossiers. Die Ausgabe zu
den WM-Folgen auf nationaler Ebene wird demnächst erscheinen.
## Symbolisches Begräbnis für verstorbene Arbeiter
Vor allem in São Paulo, wo am 12. Juni das Eröffnungsspiel des Gastgebers
gegen Kroatien im immer noch nicht ganz fertigen Iraquerão-Stadion
stattfinden wird, halten die Proteste an. Am Montag kam es in São Paulo zu
erneuten Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten.
Die Militärpolizei ging mit Tränengas gegen ungefähr hundert Demonstranten
vor, die ihre Unterstützung für den seit Tagen anhaltenden Streik der
U-Bahn-Beschäftigten kundtaten und den Verkehr auf einer
Hauptverkehrsstraße mit in Brand gesetzten Mülltonnen blockiert hatten.
Auch die Bewegung für bezahlbaren Wohnraum bringt regelmäßig Tausende auf
die Straßen, andere WM-Gegner und streikende Lehrer demonstrieren
ebenfalls. Unerwünschten Besuch bekamen zudem der Chef des brasilianischen
Fußballverbands (CBF), José Maria Marin, und der WM-Rekordtorschütze
Ronaldo. Vor Marins Prachtvilla veranstalteten Demonstranten ein
symbolisches Begräbnis der Arbeiter, die beim Bau der Stadien ums Leben
gekommen sind.
Vor Ronaldos Büro ging es um seine autoritären Sprüche als Mitglied des
WM-Vorbereitungskomitees. „Mit Krankenhäusern macht man keine Fußball-WM“,
posaunte der Exstar schon 2013 den Kritikern entgegen, zuletzt befand er,
dass Randalierer den Knüppel verdient hätten.
9 Jun 2014
## AUTOREN
Andreas Behn
## TAGS
Public Viewing
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Protest
Fifa
Brasilien
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