| # taz.de -- Fußball-WM in Brasilien: Mit der herben Wucht der 90er | |
| > Kurz vor der WM spielt die deutsche Nationalmannschaft der Autoren in | |
| > Brasilien. Und sie stellt fest, dass die Favelas nicht befriedet sind. | |
| Bild: Auch in der Favela Maré bleibt der gepflegte Befreiungsschlag das bevorz… | |
| SÃO PAULO / RIO DE JANEIRO taz | Von der Seitenlinie ruft Jimmy Hartwig | |
| herein: „Oh, oh, oh! Na, der spielt nicht lang, der kann nichts.“ Wen genau | |
| die HSV-Legende meint, wer da nichts kann auf dem eingezäunten Fußballplatz | |
| in der Favela Maré, ist nicht ganz klar. In dem Armenviertel Rio de | |
| Janeiros weitab der Copacabana spielt eine Mannschaft aus deutschen und | |
| brasilianischen Autoren gegen ein Team aus Maré-Bewohnern und jungen | |
| Baile-Funk-Musikern. | |
| Um den Platz herum stehen Dutzende Zuschauer, vor allem Kinder. | |
| Marihuanaschwaden ziehen über das Spielfeld, zwischendurch fahren Jeeps mit | |
| schwer bewaffneten Soldaten vorbei – die Favela Maré ist erst vor wenigen | |
| Wochen „befriedet“ worden. Jimmy Hartwig hat es in diesem Umfeld schwer, | |
| sich Gehör zu verschaffen. Die HSV-Legende ist engagiert worden, um die | |
| Autonama, die deutsche Autorennationalmannschaft, in Brasilien als Trainer | |
| zu begleiten. | |
| Das Spiel gegen das Favela-Team ist ein Höhepunkt des Besuchs der Autonama | |
| im WM-Gastgeberland. Eigentlich sollte sie in der Maré gemeinsam mit | |
| brasilianischen Literaten gegen eine aus „Favelados“ und UPP-Polizisten | |
| formierte Mannschaft spielen. Doch daraus wurde nichts, zu stark sind die | |
| Spannungen zwischen der „Befriedungspolizei“ UPP und den Maré-Bewohnern. | |
| Stattdessen ist der bekannte „Funkero“ MC Smith mit Freunden eingesprungen, | |
| um das Maré-Team zu komplettieren. „Was die Menschen hier brauchen, ist | |
| nicht noch mehr Polizei, sondern Liebe und Zuneigung“, sagt er. Die UPP hat | |
| die Baile-Funk-Partys in den Favelas verboten. „Unsere Kultur wird einfach | |
| unterdrückt“, sagt MC Smith. „Für mich ist das keine Befriedung.“ | |
| ## Ein ehrenvolles 3:5 | |
| Nach dem Spiel gibt es in einer Halle um die Ecke unter dem Motto | |
| „Literarische Dribblings“ eine Lesung der deutschen und brasilianischen | |
| Autoren. Der Autonama gehe es bei der Verbindung von Literatur und Fußball | |
| um eine „wirkliche kulturelle Begegnung“, sagt der Dramatiker Moritz Rinke. | |
| Er ist Rekordschütze der Autorennationalmannschaft und mit dabei, seit das | |
| Team 2005 gegründet wurde. | |
| Inzwischen sind die kickenden Dichter, Schriftsteller, Drehbuchautoren und | |
| Slam-Poeten zum offiziellen DFB-Botschafter geworden und werden von der | |
| DFB-Kulturstiftung gefördert. Seit 2012 können sich die Deutschen gar | |
| Europameister der Autoren nennen. | |
| Nun ist die Autonama kurz vor dem WM-Anpfiff auf Einladung des | |
| Goethe-Instituts eine Woche lang im Land des „jogo bonito“. In den eigens | |
| für die Reise geschriebenen Texten offenbart sich allerdings, dass sich die | |
| meisten deutschen Spieler bei der großen Frage der Fußballtheorie – schön | |
| Spielen versus Gewinnen – ganz klar der Zweckrationalität verbunden fühlen. | |
| Uli Hannemann etwa sieht den Autonama-Stil eher „der herben Wucht der 90er | |
| denn dem Özil-Götze-Tralala“ verpflichtet. | |
| Auch Jochen Schmidt bekennt: „Es ist schön zu sehen, wie ein sauberes | |
| Tackling Komplexitäten reduziert. Wenn man mit dem Ball umgehen kann, ist | |
| Fußball ja keine Kunst mehr.“ Mit klassischen deutschen Tugenden kämpft | |
| sich die Autonama in der Maré nach einem 0:3-Pausenstand wieder zurück ins | |
| Spiel – und erreicht ein ehrenvolles 3:5. | |
| ## Streikende Lehrer haben Forderungen durchgesetzt | |
| Doch kunstfertiger Fußball ist selbst in Brasilien nicht mehr alles, was | |
| die Menschen bewegt. Moritz Rinke spricht von einer „merkwürdig gedämpften | |
| Stimmung“ im Vorfeld der Weltmeisterschaft. Von einer WM-Begeisterung ist | |
| in Brasilien angesichts teurer Stadien und unfertiger Infrastrukturprojekte | |
| tatsächlich kaum etwas zu spüren. | |
| Euphorischer ist da schon die Atmosphäre bei der alternativen Lesebühne | |
| „Cooperifa“ am Rande São Paulos. Neben Liebesgedichten von Straßenpoeten | |
| verkünden Rapper hier politische Botschaften, die von Anerkennung und | |
| Selbstermächtigung handeln. Unter tosendem Beifall wird mitgeteilt, dass | |
| die streikenden Lehrer heute ihre Forderungen durchgesetzt haben. | |
| Am Ende der Reise kommt es am Pfingstsonntag schließlich noch zur großen | |
| Revanche gegen die „Pindorama“, das Nationalteam brasilianischer Autoren. | |
| Sie hatten bei der Frankfurter Buchmesse im Vorjahr eine herbe 1:9 | |
| Niederlage gegen die Autonama erlitten. Beim Rückspiel in São Paulo zeigt | |
| sich nicht zuletzt die Fragwürdigkeit aller kulturellen Klischees: Weder | |
| begeistern die Brasilianer durch Übersteiger und filigrane Technik, noch | |
| fallen die Deutschen durch übertriebene Härte und Zug zum Tor auf – und die | |
| Partie endet 0:0. | |
| Für die Brasilianer ist das Ergebnis dennoch Balsam für die Seele: „Wir | |
| wollten auf Augenhöhe spielen, und das ist uns gelungen“, sagt | |
| „Pindorama“-Kapitän Custódio Rosa. | |
| 10 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ole Schulz | |
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