# taz.de -- Demonstrationen in Brasilien: „Die WM ist absurd“ | |
> Der Aktivist Gustavo Mehl erklärt, warum auch ein erfolgreiches | |
> Abschneiden der Seleção die Proteste in Brasilien nicht dämpfen kann. | |
Bild: Demonstrationszug vor der gut 300 Millionen Euro teuren WM-Arena in Sao P… | |
taz: Herr Mehl, in knapp vier Wochen beginnt die WM in Brasilien. Freuen | |
Sie sich darauf? | |
Gustavo Mehl: Ja, es wird eine intensive Zeit sein, ein Monat kollektiver | |
Anspannung. Aber es wird auch die erste WM sein, bei der sich nicht mehr | |
alles um unsere große Leidenschaft für den Fußball dreht. Sondern ist wird | |
auch politische Debatten und Demonstrationen geben. | |
Sie sind Mitglied des „Comitê Popular da Copa“ Rio de Janeiros. Was sind | |
diese Volkskomitees? | |
Hier haben sich 2009 in den zwölf WM-Städten soziale Bewegungen und | |
Initiativen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler und Aktivisten | |
zusammengeschlossen, um die Vorbereitungen zur WM und den Olympischen | |
Spielen in Rio 2016 und ihre Auswirkungen kritisch zu begleiten. 2011 haben | |
wir schließlich einen landesweiten Zusammenschluss geschaffen. | |
Die Komitees waren also schon vor den Protesten im Juni 2013 aktiv? | |
Ja. Bereits 2007 wurde in Rio de Janeiro ein Vorläufer-Komitee anlässlich | |
der Panamerikanischen Spiele gegründet. Denn diese sportlichen Megaevents | |
sind Veranstaltungen, die fast ausschließlich die Interessen der | |
Privatwirtschaft bedienen. Mit öffentlichem Geld werden groß angelegte | |
städtische Umstrukturierungen finanziert, die den meisten Menschen nichts | |
bringen. Es geht nicht um Verbesserungen der Lebensbedingungen, sondern | |
allein um das Riesengeschäft WM, um die Gewinne großer Unternehmen, | |
transnationaler wie brasilianischer. | |
Haben die Volkskomitees die politischen Unruhen des Vorjahres durch ihre | |
Tätigkeit mit vorbereitet? | |
Dass die Proteste derartig explodiert sind, konnte zwar keiner vorhersehen. | |
Aber einer der auslösenden Faktoren war zweifellos der Confederations Cup. | |
Und die Komitees haben in den WM-Städten dabei geholfen, ein kritisches | |
Bewusstsein zu stärken, indem sie insbesondere die Verdrängungsprozesse und | |
Menschenrechtsverletzungen im Zuge der WM-Vorbereitungen ausführlich | |
dokumentiert haben. Es ist bemerkenswert: In jeder Bar, an jeder | |
Bushaltestelle und Straßenecke trifft man heute Leute, die sehr gut darüber | |
informiert sind, was für negative Folgen die WM hat. | |
Oft heißt es, dass die Aktivisten mehrheitlich aus der Mittelschicht | |
kommen. | |
Zu uns gehören auch Vertreter der armen „comunidades“ und der von | |
Zwangsumsiedlung betroffenen Viertel. Ohnehin artikulieren sich früher | |
marginalisierte Gruppen zunehmend selber. Nehmen wir die „Garís“, die | |
Straßenkehrer Rios, traditionell eine arme Berufsgruppe, der viele Schwarze | |
angehören: Sie haben dieses Jahr einen großen Streik organisiert. Und in | |
einigen Favelas der Stadt wird regelmäßig gegen die Militarisierung des | |
Alltags durch die UPP´s, die angebliche „Befriedungspolizei“, demonstriert. | |
Nur werden diese Proteste in den „comunidades“ von den großen Medien | |
meistens kriminalisiert. | |
Herr Mehl, Sie sind ja ein bekennender Fußball-Fan… | |
Vor allem bin ich Anhänger von Vasco da Gama… | |
Und warum gerade des Vereins der portugiesischen Einwanderer in Rio? | |
Weil mein Vater schon „Vascaíno“ war. Außerdem hat Vasco eine wichtige | |
Rolle im Kampf gegen den Rassismus gespielt. Es war der erste Verein Rios, | |
bei dem Schwarze mitspielen durften und ist bis heute der einzige wichtige | |
Klub aus dem proletarischen Norden der Stadt. In der bürgerlichen „Südzone�… | |
ist Vasco jedenfalls nicht besonders populär. | |
Sie haben die Proteste gegen den Umbau des Maracanã -Stadions | |
mitorganisiert. Was stört Sie daran? | |
Vieles. Das Stadion ist in den letzten 15 Jahren bereits zwei Mal für viel | |
Geld renoviert worden. Dann wurde das Maracanã 2010 ohne jegliche | |
öffentliche Debatte geschlossen und bis auf seine Grundmauern abgerissen. | |
Um den Denkmalschutz zu genügen, wurde die äußere Struktur zwar erhalten, | |
aber ein völlig neues Stadion errichtet. | |
Und was ist nun anders? | |
Zur WM 1950 hat man das Maracanã mit Absicht in einem populären Viertel | |
errichtet, und es war ein demokratischer Ort, wo Menschen aller Schichten | |
und Hautfarben zusammen kamen. Für die Identität Rios im 20. Jahrhundert | |
hatte das Maracanã eine überragende Bedeutung. Jetzt wurden alle | |
architektonischen Eigenheiten des Stadions, die es so einzigartig gemacht | |
haben, zerstört. Früher gab es Stehplätze und Musikgruppen, heute | |
VIP-Lounges und Sitzplätze. Beim WM-Endspiel 1950 waren Menschen aller | |
Klassen und Stadtviertel im Maracanã, jetzt können sich nur noch die | |
Reichen den Eintritt leisten. Diese „Elitisierung“ zerstört auch unsere | |
besondere Fan-Kultur mit ihren Sprechchören und Trommelgruppen. Stattdessen | |
wird nun auf passives Konsumieren gesetzt. | |
Erstaunlich ist auch, dass das Maracanã zur WM erst mit öffentlichen | |
Geldern umgebaut und anschließend privatisiert wurde. | |
Das ist völlig absurd. Nun wird das Stadion von Odebrecht verwaltet, dem | |
größten Baukonzern Brasiliens, der immensen politischen Einfluss hat. | |
Odebrecht und die anderen führenden Bauunternehmen des Landes sind die | |
größten Wahlkampfspender – der rechten Politiker ebenso wie jener der | |
regierenden Arbeiterpartei PT. | |
Werden Sie überhaupt ins neue Stadion gehen? | |
Die Wahrheit ist: Ich war schon dort. Aber es war nicht leicht. Es wird | |
auch über einen Boykott debattiert, aber mein Standpunkt ist: Der Kampf | |
gegen die Kommerzialisierung des Fußballs geht weiter. Wir dürfen diese | |
neuen Fußball-„Arenen“ weder Odebrecht noch der FIFA überlassen. Und es | |
gibt auch Erfolge: Fluminense und São Paulo haben zum Beispiel die | |
Eintrittspreise gesenkt – zwei Vereine, die ironischerweise eine enge | |
Verbindung zur Oberklasse haben. Und sogar die Fußballspieler organisieren | |
sich unter dem Motto „Bom Senso“, „Gesunder Menschenverstand“, um | |
Missstände in der Organisation des Profifußballs aufmerksam zu machen. | |
Inzwischen sind die Stadionneubauten und Infrastrukturmaßnehmen zur WM zu | |
einem großen Teil aber schon abgeschlossen. Was kann da Widerstand noch | |
ausrichten? | |
Halt! Die Stadien sind zwar weitgehend fertig gestellt. Nach unserer | |
Einschätzung ist von den angekündigten Infrastrukturprojekten, zu denen | |
etwa auch versprochene Verbesserungen des öffentlichen Nahverkehrs gehören, | |
nicht einmal ein Drittel umgesetzt. Zugleich haben wir aber auch schon | |
einiges erreicht: Nach 2014 wird die ganze Welt so gut wie nie zuvor über | |
die fragwürdigen Auswirkungen sportlicher Großevents informiert sein. Und | |
in Rio geht die städtische Umgestaltung ja bis zu den Olympischen Spielen | |
2016 weiter. Wir werden darum auch während und nach der WM auf die Straße | |
gehen. Es geht um dabei um ganz konkrete Projekte. So sind rund eine | |
Viertel Million Menschen von Zwangsräumungen bedroht. Dagegen leisten wir | |
Widerstand. | |
Werden die Proteste Auftrieb erhalten, sollte Brasilien bei der WM | |
frühzeitig ausscheiden? | |
Ich glaube nicht, dass das entscheidend sein wird – auch beim | |
Confederations Cup gab es Massenproteste, obwohl ihn die Selecão gewonnen | |
hat. | |
Im Ausland wird wegen neuer Demonstrationen, Polizeigewalt und Streiks | |
jetzt gern das Bild eines Landes entworfen, das nicht in der Lage ist | |
solche Großveranstaltungen vernünftig zu organisieren. | |
Das ist eine extrem eurozentristische, vorturteilsvolle Sichtweise. Es | |
könnte die schönste, festlichste WM aller Zeiten sein. Aber unter den | |
gegebenen Bedingungen eines einseitig auf Profitmaximierung ausgerichteten | |
Modells und der von der FIFA auferlegten Regeln ist das leider nicht | |
möglich. | |
19 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Ole Schulz | |
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