Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay Politische Polarisierung in Brasilien: Das Gute an dieser Wel…
> Die Konservativen in Brasilien wollen, dass die WM schiefgeht. Sie
> wittern Morgenluft. Die Rechnung wird aber so nicht aufgehen.
Bild: Soziale Probleme lassen sich kaum militärisch lösen – Einsatz in eine…
Verpasste Chance? Alles falsch gemacht? Brasilien, ade? Hier und im Ausland
ist täglich zu lesen, dass der Fußball-WM ein Fiasko droht, dass Gewalt und
Proteste das Szenario bestimmen, dass Misswirtschaft und Planungsmängel die
Fußballbegeisterung der Brasilianer ersticken.
Doch das mediale Bild erfasst nur einen Teil der Problemursachen und
verdeckt den Blick auf überraschende Errungenschaften. Protest und
Fußballfieber werden zu Unrecht gegeneinander ausgespielt: Auf der Strecke
bleibt, dass die WM 2014 bestimmt die politischste in der bisherigen
Fußballgeschichte wird.
Eine „verpasste Chance“ setzt voraus, dass es diese Chance überhaupt
gegeben hat. Doch schon die Massenproteste im vergangenen Juni haben
gezeigt, dass ein Megaevent nach Fifa-Kriterien keine
Emanzipationsmöglichkeiten bietet. Stadien ohne Stehplätze und neue
Straßen, welche die Flughäfen mit Luxussportstätten und aufpolierten
Stadtzentren verbinden, damit die Reichen dort flanieren können, gehen
immer zulasten der breiten Bevölkerung. Sogar das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung belegte soeben in einer Studie, dass internationale
Sportspektakel für das Gastgeberland regelmäßig ein Verlustgeschäft sind.
Dieser Missstand ist also weder neu noch brasilianisch. Doch jetzt ist er
in aller Munde. Nicht nur die Sportwelt kann sich dafür schon mal bedanken,
sowohl bei den Aktivisten, die die urbanen Verfehlungen akribisch
auflisten, wie auch bei den Vermummten hinter brennenden Barrikaden, die
nicht 2010 in Südafrika und auch nicht 2006 in Deutschland, sondern erst
jetzt in Brasilien den Unmut in die Presse gebracht und dafür gesorgt
haben, dass Fifa und IOC demokratische Länder in Zukunft meiden werden.
## Anflug von Größenwahn
Zum Glück richtet sich die brasilianische Empörung nicht allein gegen die
selbstherrlichen Sportverbände. Das eigentliche Problem sei nicht die Fifa,
sondern die Regierung, die die dreisten Fifa-Bedingungen akzeptiert und
sogar noch in ein verfassungswidriges WM-Gesetz gegossen habe, beharren die
Kritiker vom Comitê Popular da Copa. Es ist eine linke Regierung mit
Persönlichkeiten wie dem Exgewerkschafter Lula und der Exguerillera Dilma
Rousseff an der Spitze.
Mangelnde Voraussicht und Naivität der Strategen einer Regionalmacht, die
seit über zehn Jahren Garanten eines einzigartigen Linksrutsches in halb
Lateinamerika sind, erklären die Fehler nicht. In einem Anflug von
Größenwahn des neuen Global Players wurden Milliarden für Stadien und
fragwürdige Verkehrsprojekte verschwendet. Statt die Interessen ihrer
Klientel, der verarmten Bevölkerungsmehrheit, zu wahren, wurden Tausende
Menschen aus Favelas vertrieben, während ein Monopol von korrupten
Bauunternehmen Heidengewinne einstreicht, die durch die Verzögerungen noch
gesteigert werden konnten. Auf die Proteste der eigenen Basis reagiert
Rousseff mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot und stellt so das
Demonstrationsrecht infrage.
Schon lange verfolgt Rousseff in vielen Bereichen keine fortschrittliche
Politik. Die Modernisierung des Landes setzt auf industrielle
Landwirtschaft, rücksichtslose Ausbeutung der Rohstoffe und die Neuordnung
urbaner Räume einschließlich Individualverkehr und Immobilienspekulation.
Dennoch bedarf die Frage nach der Verantwortung für die Pannen in Planung
und Durchführung der WM-Vorbereitungen einer Differenzierung: Trotz seines
Präsidialsystems ist Brasilien ein föderales Land, und zahlreiche
Verfehlungen gehen auf das Konto der betreffenden Bundesstaaten, die von
teils extrem korrupten Politikern regiert werden.
Auch Bildung, Gesundheit und öffentlicher Nahverkehr, die Hauptanliegen der
großen Demonstrationen, werden in erster Linie auf Landes- oder lokaler
Ebene verwaltet, ohne dass die Bundesregierung großen Einfluss nehmen
könnte. Die Demonstranten waren sich dessen durchaus bewusst und
kritisierten während des Confed-Cups in erster Linie die lokalen
Regierungen, in Rio de Janeiro Gouverneur Sergio Cabral und in São Paulo
Geraldo Alckmin. Erst als es den durchweg rechten Medien gelang, den
Massenprotest zu beeinflussen und als pauschale Kritik gegen „korrupte
Politiker“ und „Misswirtschaft“ zu deuten, verschwamm die vormals deutlic…
Stellungnahme.
## Keine Mehrheiten für Rousseff
Zwar gehören zahlreiche Lokalregenten wie Cabral in Rio zu den
Koalitionspartnern der regierenden Arbeiterpartei PT. Doch viele dieser
Allianzen beruhen nicht auf politischem Konsens, sondern sind dem
Parteiensystem geschuldet. Ohne rechte Partner wie die evangelikale PR oder
die korrupte PMDB hätte Rousseff im Bund keine Mehrheiten. Um
Koalitionskrisen zu vermeiden, muss die PT viel Macht an diese fragwürdigen
Partner abgeben und kann ihnen nicht hineinreden oder deren finanzielle wie
politische Interessen in den Bundesstaaten oder den WM-Austragungsorten
mitbestimmen.
Fraglos ist die PT längst Teil dieses politischen Systems geworden und hält
sich mit den gleichen Methoden an der Macht, die sie früher geißelte. Doch
sie hat es nicht erfunden, es bestand auch schon lange vor der WM. Als
Rousseff im vergangenen Juli endlich auf die Proteste reagierte, machte sie
den richtungsweisenden Vorschlag, das politisches System zu reformieren und
es dann per Plebiszit zu legitimieren. Schadenfroh johlte die Presse, als
die Politikerkaste im breiten Konsens aus Oppositions- und
Koalitionsparteien dem Vorstoß sofort die Rote Karte zeigte. Gut bleibt
dennoch, dass diese WM – unfreiwillig – all das auf den Tisch gebracht hat.
Der nationale wie internationale Pessimismus im Vorfeld der
Weltmeisterschaft geht allerdings weit über die Planungsfehler während der
Vorbereitungen hinaus. Zum vorhergesagten Chaos auf den Straßen gesellt
sich die galoppierende Inflation, das mickrige Wirtschaftswachstum, das
Defizit der Handelsbilanz, ja der unaufhaltsame Abstieg des
Wirtschaftswunderlands Brasilien. Der Zweckpessimismus geht so weit, dass
ein Börsenaufschwung am gleichen Tag, an dem Rousseff in einer Wahlumfrage
absackte, in der Wirtschaftspresse als Hoffnung der weltweiten Investoren
auf einen Regierungswechsel nach der Wahl im Oktober interpretiert wurde.
Die negativen Zahlen stimmen, aber sie sind unvollständig und die
Interpretation fragwürdig. Die Flucht der Investoren aus Brasilien ist
nicht nur hausgemacht, sondern liegt vor allem am angekündigten Ende der
lockeren Geldpolitik der US-Zentralbank und an der sinkenden Nachfrage nach
Rohstoffen. Die Wirtschaft stockt, aber die (offizielle) Arbeitslosigkeit
ist immer noch auf einem historischen Tiefststand. Das Wachstum ist
geringer als in China oder Indien, aber in Brasilien wird die soziale
Sicherung weiter ausgebaut. Just die langfristigen Wirtschaftserfolge der
PT-Regierung, die auch in Sozialleistungen flossen und damit die
Inlandsnachfrage ankurbelten, sind der Grund dafür, dass Rousseff immer
noch doppelt so gute Umfragewerte hat wie der rechte Oppositionsführer
Aécio Neves.
## Wahlkampf erst nach Abpfiff
Überraschend unpatriotisch macht die Opposition die WM zum Wahlkampfthema,
ganz nach dem Motto: Je schlechter, desto besser. Neves bringt es auf den
Punkt: „Verantwortung trägt nur die Bundesregierung“, sagte er letzte
Woche; „das Vertrauen der Wirtschaft kommt erst bei einem Regierungswechsel
zurück“, diese Woche. Zuletzt assistierte der frühere Stürmerstar Ronaldo:
Er schäme sich für die WM-Pannen und werde Aécio Neves seine Stimme geben.
Es ist fraglich, ob die Rechnung der Rechten aufgehen wird. Denn für die PT
beginnt der Wahlkampf erst nach Abpfiff der WM. Und immer mehr Brasilianer
ärgert das negative Image, dass ihr geliebtes Land in der Weltpresse
bekommt. Genau wie vor Jahresfrist die jahrelangen Wohlstandversprechen auf
den Demos eingefordert wurden, entspricht heute der angebliche Bankrott
ihres Landes nicht der gelebten Realität. Denn die Brasilianer werden
Fußball gucken, werden begeistert miteifern, sie werden die Gäste freudig
empfangen, auch ohne offizielle Aufforderung. Das gilt für die große
Mehrheit, aber auch für viele Aktivisten.
Täglicher Treffpunkt der Protestbewegung soll just das Public Viewing
werden, mitten im Zentrum, ohne Genehmigung und ohne Fifa-Sponsoren. Es
geht nicht gegen Fußball, es geht gegen die Auswirkungen dieser Art
Sportspektakel. So wird diese WM auch zum Schauplatz politischer
Auseinandersetzungen, und das ist gut so.
7 Jun 2014
## AUTOREN
Andreas Behn
## TAGS
Brasilien
Dilma Rousseff
Schwerpunkt Korruption
WM 2014
Fußball
Brasilien
Favelas
Fußball
LKA
Fußball
WM 2014
WM 2014
## ARTIKEL ZUM THEMA
Das WM-Teil VII: Alles so schön arm hier
Eine Sportsbar in Milwaukee baut zur WM eine Favela nach. Das
Fußballerlebnis soll unterhaltsam verkauft werden. Das gefällt nicht jedem.
Kommentar Proteste zur Fußball-WM: Die Massen bleiben zu Hause
So viele, wie vor einem Jahr in Brasilien auf die Straße gingen, werden es
während der WM nicht sein. Aber der Protest ist politischer geworden.
Fußball-WM in Brasilien: Mit der herben Wucht der 90er
Kurz vor der WM spielt die deutsche Nationalmannschaft der Autoren in
Brasilien. Und sie stellt fest, dass die Favelas nicht befriedet sind.
Patriotismus und Fußball: Die Außenspiegel tragen Schlüpfer
Schwarz-Rot-Gold ist derzeit in Deutschland allgegenwärtig, weil die
Fußball-WM vor der Tür steht. Was genau ist da eigentlich los?
Brasilianische Spezialeinheit bei der WM: Mit dem LKA im Trainingslager
Um sie für die WM zu trainieren, schickte Brasilien Polizisten einer
Elite-Einheit nach Deutschland. Das niedersächsische SEK schulte im
Nahkampf und an der Waffe.
Fußballweltmeisterschaft in Brasilien: Wem gehören die Auserwählten?
Politik und Industrie versuchen den Mythos der erfolgreichen Seleção für
sich zu nutzen. Es ist die Geschichte einer Gefangennahme.
Amnesty zu Brasilien vor der WM: „Strategie der Angst“
Gegen die Gewaltexzesse der Militärpolizei: Amnesty International fordert
Brasiliens Regierung auf, das Recht auf Protest zu achten.
Wissenschaftler über Gewalt in Rio: „Wir leben mit dieser Tragödie“
Der Politikwissenschaftler und Autor Luiz Eduardo Soares kritisiert die
gewaltsame „Befriedung“ von Favelas in Rio. Der Alltag werde militarisiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.