# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 10. Juli: Ostsee-Frühling | |
> Heringsdorf, die Strandkorbstadt auf Usedom: Voll Jugendlust und Übermut, | |
> voll Spiel und Flirt, voll Tanz und Gesang, voll Frauenschönheit und | |
> Männersehnsucht. | |
Bild: Heute wie damals dominant: Strandkörbe auf Usedom. | |
HERINGSDORF – heirafsassa juchhe! Es geht lustig zu in diesem Ostende der | |
Insel Usedom! Ein starkes Bewusstsein davon rinnt einem sofort jugendlich | |
kitzelnd durch die Adern, sobald man die Doppelstadt jenes reizenden bunten | |
Fleckens voll Jugendlust und Übermut, voll Spiel und Flirt, voll Tanz und | |
Gesang, voll Frauenschönheit und Männersehnsucht betritt. Denn dieses | |
jauchzende Seebad klafft halb unbewusst in zwei Kolonien auseinander. Die | |
untere, die geheimnisvolle, die sagenumwobene, die in der Nähe des | |
Familienbades besteht aus einer unübersehbaren Anlage von Strandkörben. | |
So ausgebildete Strandkorbgassen und Marktplätze gibt es an der ganzen | |
Ostseeküste nicht wieder. Man kann sich zwischen den dich besetzten, | |
tuschelnden und raunenden Stegen sogar leicht verlieren und mein | |
Oberlehrer, der Verkünder des Homer, den ich hier zu meiner Herzensfreude | |
wiederfand, teilte mir missbilligend mit, dass er sich zuvorderst mit | |
seinem bleistift einen Orientierungsplan in sein schwarzes Glanzlederbuch | |
gezeichnet hätte, damit er sich und seine Seele in diesem sündhaften | |
Strohbabel ordnungsmäßig wiederfände. | |
Ich hoffe, es ist dem gerechten Manne gelungen und er hat seine reine Seele | |
voll Griechenidealität aus dem tanzenden Strudel unversehrt gerettet. Mir | |
ist es nicht gelungen, die meine hat Schaden gelitten. Und ich rate aus | |
betrübtem und trauerndem Gemüt allen denen, die sich nicht ganz taktfest | |
fühlen, den üppigen Strand und die lauschige Strohstadt zu meiden. Man gebe | |
sich nicht einer gefährlichen Täuschung hin, indem man annimmt, dass ein | |
Strandkorb wie der andere aussieht. Bewahre, das ist nur äußerlich. | |
Individualistisch wie unsere ganze Zeit geht es im Innern dieser lustigen | |
Rohrhütten zu. | |
Da gibt es erstens den Photogaphierkorb. Ein junges Mädchen sitzt darin, | |
weiß wie die Unschuld gekleidet mit einem sehr diskreten Rockschlitz, der | |
allerliebste weiße Strümpfe sehen lässt. Alles weiß, ganz weiß, durchaus | |
weiß. Und vor ihr steht ein Jüngling in bunter Hemdbluse und ohne Hut | |
natürlich, der der Kleinen gespannt seinen Kodak entgegen richtet. Aber er | |
hat doch Unglück, das Bürschlein, denn ich höre ganz genau, wie er trotz | |
seiner angestrengten Beschäftigung Zeit behält, zu flüstern: „Sie sind | |
wirklich ein süßer Käfer, Fräulein Ellen“. | |
Käfer! Welche eine naturwissenschaftliche Erfahrung ruht in dieser | |
ritterlichen Huldigung! Frühlingserwachen! | |
Da ist ferner der politische Korb. Ein paar umfangreichere Damen lassen ihn | |
melodisch ächzen. Vor ihnen bewegen sich einige dunkle Herren in grauen | |
Kaschmirjacken. Die Herren halten Zeitungen in aufgeregt zitternden Händen | |
und debattieren mit ihren Gebieterinnen: „Wenn ich dir aber sage, er ist | |
unbeliebt, der Albanier, diese Mbret. Hier steht es, Wilhelm der | |
Unbeliebte. Ausgerechnet hat er nach Durazzo gehen müssen. Und die Borke | |
ist auch schon wieder lustlos.“. | |
Nebenan steht der Kartenkorb. Er dreht mir zwar seine Rückseite zu, aber | |
ich vernehme doch eine scharfe weibliche Stimme, die, jeden Widerspruch | |
übertönend, in den erschütternden Ruf ausbricht: „Reden Sie keinen Unsinn. | |
Wenn ich Pik-Ass gespielt hätte, dann wären Sie alle ohne Strümpfe nach | |
Hause gegangen.“. Ja, aber die Liebliche hat wahrscheinlich ihren genialen | |
Einfall nicht zur Ausführung gebracht und das Gemeine triumphiert | |
gewöhnlich im Leben … | |
Still und einsam, ein wenig abseits, steht die Hütte der „strafenden Dame“. | |
Sie ist sehr elegant gekleidet, sehr hübsch, schlägt die Füße leicht | |
übereinander und wirft jedem der vorüber kommenden Herren einen strafenden | |
Blick zu, der da ausdrücken soll, dass die Einsame eine vornehme und | |
kontemplative Natur sei und dass man sie um Gottes Willen nicht verkennen | |
möge. Aber es gehen auffällig viel Herren an dem Korb vorüber. | |
Nebenan entdecke ich das Retiro der „schlafenden Dame“. Sie sit noch | |
hübscher wie die andere, trägt wunderliebliche goldschimmernd gefärbte | |
Haare, ein durchbrochenes Gewand mit viel Hohlsäumen und liegt ein wenig | |
zurückgelehnt, denn sie ist vom Traum bezwungen. Die Rasenflügel zittern | |
ein wenig, die Brust hebt sich sanft und regelmäßig und auf den Wangen | |
liegt es wie Morgenrot. Sie schläft fest. Nur etwas bleibt merkwürdig. Wenn | |
ein ganz bestimmter Herr vorüberwandelt, dem man trotz seines Strandkostüms | |
schon von weitem den Gardeoffizier anmerkt, dann lächelt der kleine | |
gefärbte Mund. Ja, die Impressionen des Traumlebens sind von Freud und | |
seinen Schülern noch immer nicht genügend aufgeklärt. | |
Ganz nahe am Meer, so dass die Gruppe beinahe von den Strandwellen erreicht | |
wird, haben Jünglinge und Jungfrauen in ästhetisches Zelt errichtet. Die | |
jungen Herren, mit dem letzten Raffinement der Tauentzienstraße gekleidet, | |
liegen umher und sprechen zu einem sehr ernsten Mägdelein empor, die eine | |
schwarze Cleo-Frisur trägt. Man hört ehrfurchtgebietende Namen in diesem | |
Kreise herumschwirren: Baffermann – Moissi – die Eyfoldt. Und der Jüngste | |
von ihnen behauptet, dass Reinhardt verpflichtet wäre, Beethoves „Ereika“ | |
im Zirkus Busch durch eine Pantomime zur Geltung zu bringen. | |
„Worte stören heutzutage, Worte haben wir längst überwunden“. Und ich | |
empfinde mit Knut Hamsun, dass man unserer Jugend gar nicht genug Ehrfurcht | |
entgegenbringen könne. Sie denkt so entzückend radikal und so wenig | |
verstiegen und modenärrisch. Das finde ich auch in meinem Korb bestätigt, | |
den ich mir auf einen Tag gemietet und von dessen Armbreitern ich folgende | |
Inschriften ablese (ich berichte hier ganz wörtlich und als ein | |
wahrheitsliebender Chronist). Da steht zuvorderst mit blauem Tintenstift | |
verzeichnet: | |
„Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht“ (Nietzsche). Und | |
darunter entdecke ich in der bekannten schrägen Jungfrauenschrift: „Das | |
Leben muss ausgekostet werden – immer noch mehr – viel, viel mehr, wer | |
weiß, wie lange es dauert“. | |
Gottlob, o Jungfrau Ausleberin und auch du, du mein peitschentragenden | |
Jüngling, ihr befindet euch in Heringsdorf an der richtigen Stätte. Und | |
meine beschwingte Dichterphantasie verkündet mir, dass du, mein | |
Knutenjüngling, die durstige Jungfrau finden und dass du ihr deine Peitsche | |
in der nervigen Rechten zeigen wirst und dass dann noch alles gut wird. | |
Gottlob, gottlob, es wäre sonst schrecklich um Deutschland bestellt. | |
Als ich die erste Nacht in Heringsdorf schlief, gab es einen wilden | |
Spektakel. Ein dumpfes, rhythmisches Dröhnen erhob sich, dass die Scläfer | |
aus ihren Kisten fuhren und ich an eine hereinbrechende Sturmflut glaubte. | |
Aber es handelte sich nur um eine Pauke und einen Schellenbaum, welche der | |
Heringsdorfer Schützengilde vorangetragen wurden. In festem deutschen | |
Männertritt hörte ich sie an meinem Hotel Lindemann, wo man so gut | |
aufgehoben ist, vorübermarschieren. Und sie marschierten auch noch in ihren | |
biederen Bratenröcken und in gewichsten Zylindern den ganzen folgenden Tag | |
durch die Straßen. Voran zog ihr Schützenkönig ordensübersät, aber | |
flankiert von zwei säbelschwingenden Badepolizisten und es sah aus, als | |
hätte an in diesem wohlbeleibten König eine blutrünstige Renaissancefigur | |
gefangen, die man vor Mord und Gewalttat bewahren wollte. | |
Am Nachmittag wurden wir durch bessere Musik versöhnt. Dei Kurverwaltung | |
hat sich für ihre Konzerte den kleinen schwarzen melodiösen Julius | |
Einödshofer engagiert. Er stand inmitten seiner zahlreichen Mannschaft und | |
unter seinen schwingenden und tänzelnden Händen quollen die pikantesten und | |
aufreizendsten Twosteps und Tangos über die lange, gartengesäumte | |
Strandpromenade. Hinter seinem Dirigentensitz aber scharten sich junge | |
Mädchen in hellblauen und weißen Kleidern und sie wiegten sich in den | |
Hüften und übten verstohlen ein paar der schwulen Niggerfiguren. Auch die | |
See tanzte mit und donnerte dem kleinen schwarzen Kapellmeister ihren | |
Beifall. | |
Noch im Jahre 1810 war das jetzt so bekannte Bad eine Waldwildnis. Sie | |
gehörte dem Oberforstmeister v. Bülow, der eines Tages mit der Axt | |
gewaltsam Lichtungen bis zum Meer schaffen ließ. An den wunderlieblichen | |
Lichtungen siedelten sich allmählich Fischersleute an und dann erschienen | |
jene Pioniere, die die Schönheit des Ortes über die Welt riefen. Zu den | |
hervorragendsten dieser Entdecker gehörten der Dchter Willibald Alexis und | |
der berühmt Schauspieler Eduard Devrient. | |
Lange Zeit hat man geglaubt, dass das entstehende Seebad auch seinen Namen | |
von dem märkischen Dichter erhalten hätte, denn Willibald Alexis hieß | |
bekanntlich „Häring“. Aber das ist ein pietätvoller Irrtum. Der eigentlic… | |
Taufpate war vielmehr Friedrich Wilhelm IV., der im Hinblick auf die | |
Ostseedelikatesse, die hier gefangen wird, dem neuen Ort seinen jetzigen | |
Namen erteilte. Das meiste jedoch zu der Ausgestaltung des Ortes zu einem | |
Seebad ersten Ranges hat dann der Geheime Kommerzienrat Delbrück getan, den | |
die Einwohner als den eigentlichen Grüner des Bades bezeichnen. Sie haben | |
ihm in dem herrlichen, grün beschatteten Buchenpark ein würdiges | |
Steindenkmal gesetzt. | |
Quelle: Berliner Tagblatt | |
10 Jul 2014 | |
## TAGS | |
aera | |
Usedom | |
Ostsee | |
Urlaub | |
Alltag | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Reiseland Deutschland | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
Sarajevo | |
aera | |
aera | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Weißer Strand und braune Wähler: An die Ostsee, wie immer | |
Wer trotz der Wahlerfolge rechter Parteien in Mecklenburg-Vorpommern Urlaub | |
macht, ist nicht allein. Viele kommen immer wieder. | |
Nachrichten von 1914 - 17. Juli: Die schirmlosen Berlinerinnen | |
Nach Handschuhen und Hüten droht nun auch der Sonnenschirm aus der | |
Damenmode zu verschwinden. Schuld dürfte auch der Aufstieg der Handtasche | |
sein. | |
Nachrichten von 1914 – 16. Juli: „Schritte“ in Serbien | |
Gegenüber Serbien übt sich Österreich in ungewohnter Zurückhaltung. Das | |
könnte ein gutes Zeichen sein. Doch in Österreich steigt täglich das Gefühl | |
der Unruhe. | |
Nachrichten von 1914 – 15. Juli: Verführer, Demagoge, Zarenfreund | |
Seit 1905 hat niemand in Russland so von sich reden gemacht wie Rasputin. | |
Nun wurde auf ihn ein Attentat verübt. Ein Nachruf auf den Verbrecher. | |
Nachrichten von 1914 – 14. Juli: Das Anschwellen der Rüstungen | |
Kein anderes Land hat so viel für Rüstung ausgegeben wie Deutschland. Doch | |
bei den Pro-Kopf-Ausgaben hat noch immer eine andere Großmacht den ersten | |
Platz inne. | |
Nachrichten von 1914 - 12. Juli: Die Frau mit Bart und Glatze | |
Frauen drängen immer stärker in männliche Domänen. Das könnte dazu führen, | |
dass wir uns bald an Frauen mit Glatze und Bartwuchs gewöhnen müssen. | |
Nachrichten von 1914 – 11. Juli: „Spanner“ und „Lauscher“ | |
Liebespaare haben es im Berliner Grunewald mit erpresserischen Spannern zu | |
tun. Die Täter geben sich als Polizisten aus und bringen die Paare um ihr | |
Geld. | |
Nachrichten von 1914 – 9. Juli: Österreichisch-serbische Spannungen | |
Solange die Hintergründe des Attentats nicht aufgeklärt sind, wird | |
Österreich keine Schritte gegen Serbien einleiten. Die Krise könnte sich | |
bald verschärfen. | |
Nachrichten von 1914 – 7. Juli: Selbstmord wegen Spekulationen | |
Ein Mehlhändler und seine Frau haben sich wegen Geldproblemen umgebracht. | |
Weil die Geschäfte immer schlechter liefen, spekulierten sie mit Geld. | |
Nachrichten von 1914 – 6. Juli: Rennen zu Grunewald | |
Skurrile Szenen spielten sich beim Pferderennen im Berliner Grunewald ab. | |
Wegen eines Frühstarts ging der letzte Starter als Sieger über die | |
Ziellinie. | |
Nachrichten von 1914 – 5. Juli: Kaiser Franz Josef über die Mordtat | |
Der Tod seines Neffen und Thronfolgers hat Kaiser Franz Josef schwer | |
getroffen. Doch die Zuneigung der Bevölkerung lindert seinen Schmerz. | |
Nachrichten von 1914 – 4. Juli: Berliner Asphalt bei 54 Grad | |
Die Straßenbeläge in Berlin leiden unter der direkten Sonneneinstrahlung. | |
In mancher Wohnstraße werden Pferdehufe und Wagenräder ihre Spuren | |
hinterlassen. | |
Nachrichten von 1914 – 3. Juli: Deutsche und italienische Küche | |
Hierzulande tun viele der italienischen Küche unrecht, wenn sie sie mit | |
Zwiebel- und Knoblauchgenuss gleichsetzen. Ein Kochbuch will das ändern. |