Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Weißer Strand und braune Wähler: An die Ostsee, wie immer
> Wer trotz der Wahlerfolge rechter Parteien in Mecklenburg-Vorpommern
> Urlaub macht, ist nicht allein. Viele kommen immer wieder.
Bild: Die Seebrücke von Heringsdorf
Gerd, der von März bis Oktober im weißen Sand von Heringsdorf Strandkörbe,
Bier und Kartoffelpuffer mit selbst gekochtem Apfelmus verkauft, empfängt
keine vornehme Kundschaft. Er empfängt eher die kleineren Leute, und kleine
Leute haben kleine Sorgen. „Das geht schon im April los, da stehen die hier
und wollen wissen, wie morgen das Wetter wird. Kein Tag vergeht, an dem sie
nicht nach dem Wetter fragen.“ Deshalb steht an der Kreidetafel über der
Currywurst und dem Backfisch in großen Lettern: „Hier leider keine
Wetterauskünfte.“
Gerd arbeitet seit 20 Jahren am Strand von Heringsdorf. Fünf Jahre nach dem
Fall der Mauer beendete er seine Karriere als Monteur auf Reisen, um hier
sesshaft zu werden. Seitdem hat sich einiges verändert am prominentesten
Ostseestrand der DDR.
Im Sommer umkreisen statt der ostdeutschen Trabanten BMWs auf der Suche
nach Parkplätzen den Anziehungspunkt, statt „Obst und Gemüse“ gibt es Aldi
und Lidl, statt Broilern Hamburger. Alles ist in westdeutscher
Unternehmerhand. Nur die westdeutschen Urlauber bleiben immer noch aus. Und
die Ergebnisse der letzten Landtagswahl werden die Beliebtheit von
Heringsdorf nicht unbedingt steigern.
Die alten Stammgäste von Heringsdorf allerdings werden sich die Frage, ob
man nach den Erfolgen der AfD jetzt noch an der Ostsee Urlaub machen darf,
kaum stellen. Denn es sind die Ostberliner, die Thüringer und die Sachsen,
die in Heringsdorf Urlaub machen. Nicht die Schweizer, nicht die Schwaben,
auch nicht die Bayern, höchstens mal ein paar Westberliner. „Dabei ist
unser Strand so weiß wie in der Karibik. Aber die Wessis mussten ja schon
immer möglichst weit weg, wenn sie Urlaub machen!“, lästert eine ältere
Dame, die schon seit Jahren „beim Sonnenuntergang immer auf der gleichen
Bank“ sitzt.
„Eigentlich ist das ganz unterhaltsam hier“, sagt Fred aus Westberlin, der
schon 1990, gleich im ersten Sommer nach der Wende, in seinen Opel stieg,
um seinen neuen Taucheranzug in der Ostsee zu erproben, ohne vorher von den
Vopos wegen der Sauerstoffflasche gleich dumm angemeckert zu werden.
## Weiße Socken und braune Ledersandalen
Ein Vierteljahrhundert später kommt Fred immer noch hierher. Gemeinsam mit
den Ossis. „Und das sind immer noch die Gleichen wie früher. Sie trinken
immer noch Kaffee mit Kondensmilch und tragen immer noch diese weißen
Socken zu braunen Ledersandalen. Auf dem Campingplatz hissen sie vorm Zelt
die Fahne mit Hammer und Sichel. Manchmal kommt es mir vor wie’n
Eingeborenenreservat.“
Dabei wäre dieser Ort eigentlich gerne so etwas wie die Copacabana. Oder
zumindest wie Rimini oder Biarritz: ein Strand mit großem Namen. Ein
weltberühmter Urlaubsort. Denn genau das war dieses kleine Heringsdorf
einmal. Trotz seines lächerlichen Namens.
Es gab eine Zeit, da kam fast alle Welt nach Heringsdorf! Das war, als sich
der Oberforstmeister Georg Bernhard von Bülow auf einer Anhöhe hinter der
hohen, aus feinem Ostseesand aufgetürmten Düne ein Häuschen errichtete. Es
war das erste Ferienhäuschen in der Gegend, und der Staatsbeamte war so
etwas wie der erste Urlauber an dem noch menschenleeren, strahlend weißen
Strand.
Die Idylle begeisterte auch den aus Berlin angereisten Chef des Herrn von
Bülow, der ihm eines warmen Sommers einen Besuch abstattete. Friedrich
Wilhelm III. war derart begeistert, dass er fortan jeden Sommer mit seinen
Söhnen im Haus auf dem Kulm Quartier nahm, das man nun das „Weiße Schloss“
nannte – auch wenn die Söhne des Staatschefs ihre bestäubten Näschen
rümpften, als sie die barfüßigen Fischer vor ihren Hütten Heringe einsalzen
sahen. Ihre Bemerkungen sind nicht überliefert, aber die Historiker sind
sich einig, dass Heringsdorf seit damals Heringsdorf hieß.
## Die erste „Badeanstalt“
Im Jahr 1824 wurde der Waldmeister zum Bademeister und eröffnete die erste
„Badeanstalt“ am Ostseestrand. Im Jahr 1898 sprangen die feinen Damen und
Herren von der gerade eingeweihten Seebrücke ins Wasser. An der Ostsee
tanzte die Hautevolee, im Kaiserpavillon trank man Kaffee und Tee.
Begeistert schwärmt der Dichter Fontane, der Blick wirke „Wunder für
Nerven, Blut und Lungen“, auch die Kollegen Gorki, Tolstoi, Mann und Böll
schauten von Heringsdorf aufs Meer hinaus und waren glücklich über die
„Berliner Badewanne“, die nur „dreieinhalb Stunden Bahnfahrt“ von Berlin
entfernt war.
Heringsdorf wurde ein Ort der vornehmen Leute. Und das wäre er auch gern
geblieben. Heute bezeugen nur noch die alten Villen die glänzenden Zeiten.
An der 12 Kilometer langen Promenade reiht sich Villa an Villa, und ähnlich
wechselhaft wie ihre äußere Erscheinung ist auch ihre Geschichte: Zuerst
kam der König, dann der Kaiser, dann Hitler und dann die DDR. Und zuletzt
kamen die westdeutschen Investoren. Da ist die Villa Oechsler mit ihren
ockerfarbenen Wänden und dem riesigen Spiegel, die Villa Irmgard, in der
einst Gorki seinen Schreibtisch stehen hatte, und dann noch die Villa
Oppenheim mit der großen Freitreppe und den korinthischen Säulen.
Die pompöse Villa des Bankiers Oppenheim aus dem Jahre 1883 wurde unter den
Nazis zur Ortszentrale der NSDAP, nach dem Krieg diente sie den Offizieren
der Roten Armee als Feriensitz. Zu DDR-Zeiten wurde sie Teil des
Erholungsheims Heinrich Mankiewicz für die Mitarbeiter der
Staatssicherheit, der berühmteste Gast jener Zeiten hieß Erich Mielke. Nach
dem Fall der DDR aber erhielten die Bankiers Oppenheim die Villa zurück und
verkauften sie 1994 an westdeutsche Investoren.
Weniger bekannt ist das Schicksal der Villa Oasis mit ihrem hölzernen,
originalen Patio. Die weiße Villa liegt nur ein paar Meter entfernt von
Gerds Strandkörben. Das Haus mit den fünf Sternen und den fünfzehn Zimmern
über der Loggia ist ein vornehmes Haus. Auch seine Geschichte beginnt in
der Heringsdorfer Blütezeit: Das Sommerhaus am Meer bauen sich 1896 eine
Opernsängerin und ein Großindustrieller. Doch auch über dieses Haus „legt
sich der braune Schleier“, schon Ende der Zwanzigerjahre wird die Villa mit
ihren 15 Zimmern und dem Gartenhaus zum „Kindererholungsheim“.
## Erst die Mütter, dann die Offiziere
Später, im Krieg, wird sie zum Muttergenesungsheim, danach dient sie der
Genesung sowjetischer Offiziere, und als endlich Frieden einkehrt, wird die
Villa zum Gästehaus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft.
Einer der größten Freunde der DDR war der Kosmonaut German Titow, nach
Gagarin der zweite Mensch im All. Titow muss angenehme Tage in der Villa am
Meer verbracht haben, gemeinsam mit Frau und Chauffeur. Zumindest der
Kraftfahrer behielt das Haus so gut in Erinnerung, dass er viele Jahre nach
dem Ende der DDR noch einmal in der Villa Oasis auf einen Kaffee vorbeikam.
„Sie erinnern sich alle immer an ihre Zimmer!“, sagt Hendrik Kralle. Der
Dirigent, der zum Hoteldirektor wurde, lächelt. „Und jeder will im nächsten
Jahr wieder in dasselbe Zimmer. Die Macht der Gewohnheit!“ Dieser Macht
wegen kommen sie auch immer noch aus Leipzig, Dresden, Weimar oder
Schwerin, tragen sie immer noch weiße Socken und braune Sandalen.
Auch Gerd mit seinen Strandkörben und seinem Apfelmus bleiben die
Stammgäste seit vielen Jahren treu. Sie tragen Turnschuhe oder Flipflops,
manchmal Wanderschuhe. Bei Gerd sitzen die einfachen Leute.
Aber wenn Gerd einmal Zeit hat, dann kann man beobachten, dass sich auch
die einfachen Leute ganz gern einmal bedienen lassen. Wenn Gerd dann mit
seinem Tablett bis zu ihrem Strandkorb kommt und mit einer Andeutung einer
Verbeugung einen Backfisch serviert, dann huscht ein Lächeln über ihr
Gesicht. Und dann spürt man, dass in Heringsdorf die goldenen Jahre noch
nicht ganz vergessen sind.
10 Sep 2016
## AUTOREN
Hans Korfmann
## TAGS
Reiseland Deutschland
Ostsee
Usedom
Usedom
Usedom
Usedom
Schwerpunkt Landtagswahlen
Usedom
Schwerpunkt Landtagswahlen
aera
Reiseland Deutschland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Fahr mit ans Meer!
Usedom, bürgerlich, gediegen, ganz die Tradition des ehemaligen
Kaiserbades. Inzwischen gibt es auch Industriedesign mit maritimem
Einschlag.
AfD und Usedom-Tourismus: Grütze, Kuchen und Rolls-Royce
Dass wegen der AfD weniger Touristen kommen, glaubt der Usedomer Hotelier
Jörg Erdmann nicht. Erkundungen zum Saisonausklang.
Politische Stimmung auf Usedom: Die Angst vor der Flut
Die Usedomer kämpfen um ihren Deich, für eine bessere Infrastruktur und
gegen Flüchtlinge. Auf der Suche nach den Motiven der Wähler auf Usedom.
Pro und Contra Urlaub in Meck-Pomm: Ferien in rechten Idyllen?
Die extremen Wahlergebnisse an der Ostseeküste führen zu einer erhitzten
Diskussion: Kann man da noch Urlaub machen?
Gastbeitrag zur Meck-Pomm-Wahl: Kein Urlaub mehr auf Usedom
Der Leiter von „Schule mit Courage“ hat seine Reise nach Usedom storniert.
Dort will er sich weiter engagieren, aber keinen Urlaub mehr machen.
Bodo Ramelow über die Meck-Pomm-Wahl: „Flüchtlinge sind nicht das Problem“
Bodo Ramelow, der linke Ministerpräsident in Thüringen, über die Strategie
der AfD, Strategien gegen die AfD und Wege, Ausgegrenzte zu erreichen.
Nachrichten von 1914 – 10. Juli: Ostsee-Frühling
Heringsdorf, die Strandkorbstadt auf Usedom: Voll Jugendlust und Übermut,
voll Spiel und Flirt, voll Tanz und Gesang, voll Frauenschönheit und
Männersehnsucht.
Usedom: Ein Vorort Berlins
Wo die Städter baden gehen. Sommerfrische in den Kaiserbädern - Bansin,
Heringsdorf und Ahlbeck - damals und heute
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.