# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 16. Juli: „Schritte“ in Serbien | |
> Gegenüber Serbien übt sich Österreich in ungewohnter Zurückhaltung. Das | |
> könnte ein gutes Zeichen sein. Doch in Österreich steigt täglich das | |
> Gefühl der Unruhe. | |
Bild: Beerdigung des Thronfolgerehepaars Franz Ferdinand und Sophie. | |
Aus Wien wird uns vom 14. Juli geschrieben: | |
Was planen die österreichischen Machthaber? Die äußeren Vorgänge | |
unterscheiden sich diesmal sehr auffällig von dem, was man während der zwei | |
großen Konflikte mit Serbien, dem nach der Annexion und dem in Frage der | |
Räumung der besetzten Küstengebiete nach den Balkankriegen, erlebt hat. | |
Während der Ballplatz (Sitz des Außenministeriums Österreich-Ungarns, d. | |
Red.) damals mit dem Aufgebote eines argen Lärms arbeitete, kein Mittel zur | |
Erregung der Leidenschaften verschmähte und seine „Entschlossenheit“ in den | |
grellsten Farben malte, befleißigen sich die offiziellen Kreise diesmal | |
einer Zurückhaltung, die man loben müsste, wenn man hoffen dürfte, dass sie | |
echt sei. | |
Irgend eine offizielle Mitteilung darüber, was man in Belgrad unternehmen | |
werde, ist nicht gegeben worden; genau betrachtet, ist eigentlich auch | |
niemals in einer amtlichen verpflichtenden Weise angekündigt worden, dass | |
überhaupt etwas unternommen werden wird. Als die sich als „inspiriert“ | |
gebärdenden Blätter über den letzten gemeinsamen Ministerrat und über die | |
sich daranschließende Audienz in Ischl allerlei bedrohliche Mitteilungen zu | |
veröffentlichen begannen, erfolgte sofort von Wien und von Budapest aus ein | |
schroffes Dementi. | |
Graf Tisza, der einzige Minister, der seither gesprochen, hat sich, ganz | |
gegen seine sonstige Losgehermanier, nüchtern und besonnen vernehmen | |
lassen. Das alles würde zu dem Schlusse verführen können, dass sich die | |
Forderung Österreichs, wenn sich aus der Untersuchung über die Mordtat für | |
sie überhaupt ein Anlass gewinnen lässt, in verständigen Grenzen halten | |
werde. Auch sieht man sich vergebens nach der treibenden Kraft für ein zum | |
Kriege führendes Vorgehen um. Der alte Kaiser wird dafür ganz bestimmt | |
nicht in Anspruch genommen werden können; ebenso wenig aber auch der junge | |
Mann, der jetzt den Thronfolger darstellt. | |
Auch die Minister, Berchtold auf der einen, die Stürgth und die Tisza auf | |
der anderen Seite, sehen nicht gerade danach aus, als ob sie fähig wären, | |
sich in Abenteuer, deren Ende nicht abzusehen ist, zu begeben. Bleibt die | |
[1][Soldateska], der freilich jede Ausschreitung zuzumuten ist. Indes kann | |
nicht übersehen werden, dass die Militärs, die allerdings mit Serbien schon | |
seit langem und eigentlich immer „blutige Abrechnung“ halten möchten, | |
gerade durch die Mordtat in Sarajewo ihres Hauptes beraubt wurden, und dass | |
das militärische Großmachtsbewusstsein, das sich so gerne in einem Kriege | |
entladen möchte, durch den Heimgang Franz Ferdinands um seine bewegende | |
Energie gekommen ist. Danach könnte man sich wohl entschließen, die Dinge | |
mit kühler Ruhe zu betrachten. Dennoch aber liegt es auf der Stimmung in | |
Österreich wie eine schwere Gewitterwolke und das Gefühl der Unruhe, die | |
Sorge der Beklemmung will nicht weichen, verstärkt sich eher von Tag zu | |
Tag. | |
Die Bangigkeit hat vor allem ihren Grund in der Empfindung, dass der | |
geringste Zufall in der angesammelten Spannung verhängnisvoll wirken | |
könnte. [2][Am Sonntag ist unter den in Belgrad lebenden Österreichern eine | |
regelrechte Panik ausgebrochen]. Man sprach von einem sich vorbereitenden | |
Attentat auf die österreichische Gesandtschaft, von einem Überfall auf die | |
österreichisch-ungarischen Staatsangehörigen; und alle diese wilden | |
Gerüchte, die offensichtlich an den Tod des russischen Gesandten anknüpfen, | |
wurden geglaubt. Die Österreicher flüchteten teils in die Gesandtschaft, | |
teils nach Semlin, und der Gesandte selbst bereitete sich, wie sein Sohn | |
erzählte, der sich gleichfalls nach Semlin „gerettet“ hatte, auf einen | |
Heldentod vor. | |
Es war zwar alles nur blinder Lärm; aber wie wäre es gewesen, wenn ein paar | |
zuchtloser Leute, wie ihrer gerade die serbische Hauptstadt nicht wenige | |
beherbergt, gegen die Österreicher wirklich etwas unternommen hätten? Ein | |
paar Steinwürfe gegen das Gesandtschaftsgebäude, eine Attacke auf irgend | |
welche österreichische Staatsangehörigen: und der Konflikt wäre da! Denn in | |
der Erregung über die Mordtat, die von der gewissenlosen Presse, die in | |
Franz Ferdinand ihren Schutzheiligen sieht und ihm zu Ehren gar nicht | |
ungern die [3][Hekatombenopfer] eines Krieges schlachten möchte unablässig | |
geschürt wird, könnte das kleinste Ereignis zu unabsehbaren Folgen führen. | |
Würde man die Sachlage nach der Stellung der offiziellen Faktoren | |
beurteilen dürfen, so brauchte man sich besonderer Besorgnis nicht | |
hinzugeben; sind doch alle drei Kriegsminister dieser Tage demonstrativ auf | |
Urlaub gegangen! Aber das bange Gefühl, dass im Dunklen eine schwere Gefahr | |
lauert, will nicht weichen. | |
Welche Forderungen Österreich-Ungarn nun in Belgrad zu stellen gedenkt, ist | |
nicht abzusehen; sie können sich von dem bloßen Ersuchen, den Mordspuren in | |
Serbien nachzugehen und die Mitschuldigen der Bestrafung zuzuführen, bis | |
zum drohenden Ultimatum bewegen. Es wird wohl sicher sein, dass die Spuren | |
des Attentats nach Belgrad reichen und wenn es selbst nicht der Fall wäre, | |
wird die strafgerichtliche Untersuchung, der man natürlich jede Richtung | |
geben kann, diesen Beweis schon „erbringen“. | |
Wenn sich Österreich auf das Begehren beschränken sollte, dass man in | |
Serbien diejenigen, die zu der Sarajevoer Mordtat Beihilfe geleistet haben, | |
zur Verantwortung zieht, so wäre dagegen nichts einzuwenden und könnte | |
dagegen niemand einen ernstlichen Einwand erheben. Aber damit wird sich der | |
von der militaristischen und christlichsozialen Kriegshetze gepeitschte | |
Ballplatz leider nicht begnügen, vielmehr wird er irgend welche | |
„Bürgschaften“ gegen die großserbische Agitation erhalten wollen. Nun | |
möchten wir es mit aller Deutlichkeit wiederholen, dass wir diese | |
Agitation, die auf die Vereinigung aller serbischen Gebiete zu einem Staate | |
ausgeht, gleichgültig welche „idealen“ Motive ihr zu Grunde liegen mögen, | |
für eine der schwersten Bedrohungen des Friedens in Europa halten, denn | |
dass ihre Verwirklichung nur in einem Weltkriege möglich wäre, ist wohl | |
klar. | |
Es wäre deshalb sehr nützlich, wenn man sich überall entschließen wollte, | |
die großserbischen Ideen mit der nötigen Kühle zu betrachten und Licht und | |
Schatten in der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Österreich und | |
Serbien gleichmäßiger verteilen wollte; der österreichischen und der | |
ungarischen Hetzpresse steht um Beispiel die Belgrader Schundpresse ganz | |
ebenbürtig zur Seite. Aber welche „Bürgschaften“ kann Österreich verlang… | |
und welche könnte Serbien geben? Der nationale Drang wird durch | |
diplomatisch abgezirkelte Versicherungen nicht beschworen und je stärker | |
die großserbische Tendenz in Serbien betont wird, je schreiender sie sich | |
gibt, und je offener sie sich zu ihren Zielen bekennt, desto größer muss | |
die Neigung in den österreichischen Kreisen werden, sich des Feindes, der | |
nie ruhen will, mit einem Schlage zu entledigen. | |
Dies ist auch unzweifelhaft das, worauf die militärimperialistischen Kreise | |
drängen und wobei sie nicht zum wenigsten darauf rechnen, dass die | |
serbische Überheblichkeit die Spannung bis zur Unerträglichkeit verschärfen | |
wird. Es ist also jedenfalls nicht angemessen, die Überhebung der | |
serbischen Soldateska – denn die ist es, die in Belgrad ausschlaggebend ist | |
– durch Betrachtungen zu steigern, in denen die Serben der Welt als das | |
bedrückteste aller Völker in Europa vorgeführt und ihre imperialistischen | |
Absichten in höchst kurzsichtiger Weise gerechtfertigt und verherrlicht | |
werden. | |
Die Friedenskräfte, die sich in Österreich zweimal so glänzend bewährt | |
haben und denen nicht zum wenigsten die Bewahrung des Friedens trotz der | |
zweimaligen Kriegshetze zu danken ist, - wobei den Sozialdemokraten aller | |
Nationen das allergrößte Verdienst zukommt – sind diesmal und zwar | |
einesteils durch die Mordtat, anderenteils durch die Ausschaltung des | |
Parlamentes und die Zerfetzung des gesamten politischen Lebens eher | |
gelähmt. Aber von einer wirklichen Leidenschaft und Empörung ist außerhalb | |
der schwarzgelben Presse so wenig vorhanden, und der österreichische Staat | |
ist in jeder Hinsicht so geschwächt, dass die Hoffnung wohl berechtigt ist, | |
der Konflikt werde auch diesmal in einem diplomatischen Aufgebot landen. | |
Aber man muss auch den Serben ins Gewissen reden; denn dieser unruhvolle | |
und unruhstiftende Staat hat wahrlich nicht wenig auf dem Gewissen. | |
Quelle: Vorwärts | |
16 Jul 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.duden.de/rechtschreibung/Soldateska | |
[2] http://www.aera-magazin.de/panik-unter-den-oesterreichern-in-belgrad/ | |
[3] http://www.duden.de/rechtschreibung/Hekatombe | |
## TAGS | |
aera | |
Serbien | |
Österreich | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
aera | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachrichten von 1914 – 23. Juli: Vor Österreichs Schritt in Belgrad | |
Österreich-Ungarn hat alle Statthalter und Korpskommandanten zurückberufen. | |
Wegen der Krise mit Serbien bereitet das Land bereits die Mobilmachung vor. | |
Nachrichten von 1914 – 22. Juli: Österreichische Demarche genehmigt | |
Über die Note Österreich-Ungarns an Serbien sickern immer mehr Einzelheiten | |
durch. Serbien ist wohl nicht gewillt, freundllich auf den Vorstoß zu | |
reagieren. | |
Nachrichten von 1914 – 21. Juli: Am Morgen | |
Jeden Tag strömen früh die Arbeiter aus ihren Wohnvierteln in die Fabriken. | |
Blasse, ausgemergelte Gestalten, die nur arbeiten, damit die Reichen noch | |
reicher werden. | |
Nachrichten von 1914 – 19. Juli: Das Kino als moralische Anstalt | |
Das Kino ist eine bedeutungsvollere Erfindung als der Buchdruck, schrieb | |
der Dramatiker George Bernard Shaw vor 100 Jahren. | |
Nachrichten von 1914 – 18. Juli: Die Aussperrung | |
Der Arbeitskampf wird härter: Tuchfabrikanten in der Niederlausitz | |
schließen ihre Betriebe. Mehr als 30.000 Arbeiter und Arbeiterinnen sind | |
davon betroffen. | |
Nachrichten von 1914 - 17. Juli: Die schirmlosen Berlinerinnen | |
Nach Handschuhen und Hüten droht nun auch der Sonnenschirm aus der | |
Damenmode zu verschwinden. Schuld dürfte auch der Aufstieg der Handtasche | |
sein. | |
Nachrichten von 1914 – 15. Juli: Verführer, Demagoge, Zarenfreund | |
Seit 1905 hat niemand in Russland so von sich reden gemacht wie Rasputin. | |
Nun wurde auf ihn ein Attentat verübt. Ein Nachruf auf den Verbrecher. | |
Nachrichten von 1914 – 14. Juli: Das Anschwellen der Rüstungen | |
Kein anderes Land hat so viel für Rüstung ausgegeben wie Deutschland. Doch | |
bei den Pro-Kopf-Ausgaben hat noch immer eine andere Großmacht den ersten | |
Platz inne. | |
Nachrichten von 1914 - 12. Juli: Die Frau mit Bart und Glatze | |
Frauen drängen immer stärker in männliche Domänen. Das könnte dazu führen, | |
dass wir uns bald an Frauen mit Glatze und Bartwuchs gewöhnen müssen. | |
Nachrichten von 1914 – 11. Juli: „Spanner“ und „Lauscher“ | |
Liebespaare haben es im Berliner Grunewald mit erpresserischen Spannern zu | |
tun. Die Täter geben sich als Polizisten aus und bringen die Paare um ihr | |
Geld. | |
Nachrichten von 1914 – 10. Juli: Ostsee-Frühling | |
Heringsdorf, die Strandkorbstadt auf Usedom: Voll Jugendlust und Übermut, | |
voll Spiel und Flirt, voll Tanz und Gesang, voll Frauenschönheit und | |
Männersehnsucht. | |
Nachrichten von 1914 – 9. Juli: Österreichisch-serbische Spannungen | |
Solange die Hintergründe des Attentats nicht aufgeklärt sind, wird | |
Österreich keine Schritte gegen Serbien einleiten. Die Krise könnte sich | |
bald verschärfen. |