| # taz.de -- Nachrichten von 1914 – 19. Juli: Das Kino als moralische Anstalt | |
| > Das Kino ist eine bedeutungsvollere Erfindung als der Buchdruck, schrieb | |
| > der Dramatiker George Bernard Shaw vor 100 Jahren. | |
| Bild: Kino-Fan George Bernard Shaw. | |
| Wir bringen diesen Aufsatz von Bernard Shaw, obwohl wir durchaus nicht in | |
| allen Stücken der Meinung des Verfassers sind. In den Paradoxen, mit denen | |
| der Artikel so reich durchsetzt ist, wie G.B. Shaw mit Geist und | |
| Widerspruch, steckt aber so viel Anregung, dass niemand seine Bemerkungen | |
| ohne Interesse sehen wird. | |
| Die Redaktion. | |
| Das Kino ist eine viel bedeutungsvollere Erfindung als die | |
| Buchdruckerkunst. Um mit der Buchdruckerkunst in Berührung zu kommen, | |
| musste man lesen lernen und vor 1870 hatte man das meistens nicht gelernt. | |
| Jedoch selbst wenn man lesen konnte, war Lektüre eigentlich keine ausübbare | |
| Tätigkeit für einen Handwerker. Man frage jeden Mann, der acht oder zehn | |
| Stunden schwerer Handarbeit verrichtet hat, was ihm passiert, wenn er an | |
| ein Buch geht. Er wird einem gestehen, dass er in weniger als zwei Minuten | |
| einschläft. Das Kino aber erzählt seine Geschichte sowohl dem Ungebildeten | |
| wie dem Gebildeten. Und es hält sein Opfer (wenn man seinen Besucher so | |
| nennen will) nicht nur wach, sondern es bannt ihn so wie das Auge einer | |
| Schlange. Das ist der Grund, warum das Kino im Begriff ist, Wirkungen | |
| auszuüben, die alle billigen Bücher der Erde niemals erzielen könnten. | |
| Das Kino ist billig, für einen halben Penny darf ein Junge eintreten und | |
| drei Filme absitzen. Für einen Penny darf er der ganzen Unterhaltung | |
| beiwohnen; natürlich nicht in den vornehmen Westendkinos, aber in ärmeren | |
| Bezirken, wo die freien Plätze aller Kinos auf diese Weise besetzt werden. | |
| Der Penny ist in der Tat oft sehr gut angelegt. Man betrachte den nicht | |
| ungewöhnlichen Fall eines Kindes, dessen Mutter bis spät Abends außer Haus | |
| in Arbeit ist. Um es in ihrer Abwesenheit vor Unheil zu bewahren, kann sie | |
| das Kind entweder einsperren oder aussperren. Gewöhnlich sperrt sie es aus, | |
| weil es ihr lieber ist, wenn andere Leute durch die Möglichkeit belästigt | |
| werden, dass ihr Kind etwas anstellt und Nahrung stiehlt. Für einen Jungen | |
| in solcher Lage ist die Gastfreundschaft eines warmen Lichtspieltheaters | |
| mit einer aufregenden Unterhaltung unbezahlbar. Und die Arbeit, sich den | |
| nötigen Penny zu erbetteln, ist eine Beschäftigung, solange die | |
| Pennylosigkeit andauert. | |
| Die Leute, die dafür agitieren, dass man die Kinder aus diesen Theatern | |
| ausschließe (in einigen Städten Deutschlands haben sie es tatsächlich | |
| durchgesetzt), sollten mitleidlos bestraft werden. Was die Polizeibehörden | |
| betrifft, die kleinen Jungen den Kinobesuch zu verbieten, so sollte sie ein | |
| intelligenter Minister des Innern einmal fragen, ob es ihnen jemals | |
| eingefallen sei, die Wahl in Betracht zu ziehen, die einem solchen Jungen | |
| bleibt: die Wahl zum Beispiel, an den Straßenecken herumzulungern. | |
| Trotzdem haben diese Leute nicht unrecht, wenn sie die vom Kino | |
| hervorgerufene Frage der Moral für ungeheuer wichtig halten. Das Kino ist | |
| im Begriff, den Geist Englands zu formen. Das nationale Gewissen, die | |
| nationalen Ideale und der Prüfstein der Lebensführung werden jene sein, die | |
| der Film ins Volk trägt. Die Art und Weise, wie diese Frage behandelt wird, | |
| ist für unser öffentliches Leben sehr charakteristisch. Gewisse Leute, die | |
| niemals in einer Bildergalerie gewesen sind, regen sich über die widerliche | |
| Unmoral der Filmstücke auf und verlangen gebieterisch eine Zensur und den | |
| Ausschluss der Kinder unter 16 Jahren. Einige andere, die, wie ich selbst, | |
| Kinobesucher sind, treten als Zeugen für die trostlos romantische Kinomoral | |
| auf und machen sich über die moralischen Bedenken lustig. | |
| Und während die eine Partei aus Ignoranten besteht, die in alles dreinreden | |
| wollen, und die andere für das laissez faire stimmt, geschieht kaum etwas | |
| Vernünftiges. Was keiner von allen erkennt, ist die Tatsache, dass die | |
| Gefahr des Kinos in der Gefahr der Moral und nicht der Unmoral besteht. Das | |
| Kino darf nicht einfach die gewöhnliche und lokale Moral darstellen, | |
| sondern gerade die ungewöhnliche und internationale. Ein Film muss | |
| unbeanstandet über die ganze Erde gehen können, wenn der Maximalprofit | |
| daraus gezogen werden soll. | |
| In London und Paris können sich reguläre Theater für den pornographischen | |
| Schwank spezialisieren, weil die relativ kleine Klasse, die diese Art von | |
| Unterhaltung duldet und bevorzugt, in gewaltigen Städten groß genug ist, um | |
| ein Theater zu erhalten. Solche Schwänke müssen aber, wenn sie in die | |
| Provinz wandern, entweder durch Weglassung oder durch Vertuschung der | |
| anrüchigen Stellen verballhornt werden. Ein Film jedoch kann nicht | |
| verballhornt werden; er muss für Clapham und Canterbury ebenso passend wie | |
| für Leicester Square sein. Das Resultat kann in jeder Bildergalerie | |
| studiert werden. | |
| Dort gibt es sowohl das, was ein Feldarbeiter anständig, als auch das, was | |
| eine altmodische Gouvernante ungemein sentimental findet. Die Melodramen | |
| sind alberner geworden, als sie es je zuvor gewesen sind. Die Schwänke – | |
| tölpelhafter und variétémäßiger als irgendeine jemals von lebenden | |
| Darstellern aufgeführte Harlekinade – werden nur durch die phantastischen | |
| Unmöglichkeiten wettgemacht, welche sonst nur die Filmtricks ermöglichen. | |
| Im Kino gibt es keine Komödie, keinen Witz, keine Moralkritik durch | |
| Lächerlichmachen oder dergleichen, keine Darstellung der unerfreulichen | |
| Folgen romantischer Sentimentalität und rücksichtsloser Naretten im | |
| wirklichen Leben, nichts, was dem Beschränkten eine unangenehme | |
| Erschütterung verursachen oder die Selbstgefälligkeit des Gecken | |
| erschüttern könnte. In den Anfängen des Kinematographen, als er noch eine | |
| seltene uns kostspielige Sehenswürdigkeit war, gab es auch einige gescheite | |
| und witzige Filme. | |
| All das ist jetzt vorbei. Der Niedergang ist gründlich vollendet worden. | |
| Dem Londoner Jungen wird die Moral des Minenfeldes beigebracht und der | |
| chinesische Seeräuber muss mit Verehrung die Sitten unserer Kirchenstädte | |
| annehmen. Das Niveaudrücken ist nun zwar ausgezeichnet für das Einkommen, | |
| aber vernichtend für die Moral. In dem Augenblick, wo man einem Menschen | |
| erlaubt, andere arm zu machen, damit er selbst reich wird, ist man auf dem | |
| Wege zum Ruin. Aber in dem Augenblick, wo man den einen Menschen daran | |
| hindert, eine reifere Moral als der andere zu haben, ist man auf demselben | |
| Wege. | |
| Wir haben es hier aber nicht mit der Frage zu tun, ob man dem Londoner | |
| Jungen die Kritik der gangbaren Moral beibringen sollte, die durch | |
| Nietzsche, Ibsen, Strindberg, durch Barker, Brieger, Galsworthy, Hanik und | |
| mich (man verzeihe die Verleugnung der üblichen Phrase) und durch die | |
| Philosophie von Bergson geschaffen wurde. Diese Autoren würden in keinem | |
| Falle taugen. Aber die Annahme, dass die konventionelle Moral auf der | |
| ganzen Erde ein und dieselbe sei, ist ein fundamentaler Irrtum. | |
| Von den Moralanschauungen des italienischen Bauern oder des australischen | |
| Schafzüchters kann London nicht leben. Ja noch mehr, die hohe Zivilisation | |
| verträgt sich auch nicht mit der Romantik des Gemeinwesens der Pioniere von | |
| Kanada. Der Handelsgeist zwingt dem Kino jedoch eine solche Moral auf. Die | |
| Ansicht, dass der Staat das Kino dotieren sollte, ist ebenso | |
| selbstverständlich wie die Forderung, dass er alle Kunstgattungen bis zu | |
| dem nötigen Maße dotieren sollte, wo ihre höchsten Formen bereits über dem | |
| Konkurrenzzwange stehen. | |
| Die höchsten Kunstgattungen, wie die niedrigsten, sind notwendiger Weise | |
| unmoralisch, weil die Moral einer Gesellschaft einfach ihrer Lebensführung | |
| entspricht, der guten und der schlechten; und die höchste wie die | |
| niedrigste Lebensführung wird von nicht genug Menschen geteilt, um sie | |
| allgemein und daher moralisch zu machen. Moral ist tatsächlich nur | |
| Volkstümlichkeit. Volkstümliche Ansichten über tugendhaften Wandel werden | |
| einer Nation ebenso wenig einen Platz in der ersten Reihe der Humanität | |
| sichern, wie volkstümliche Ansichten über Wissenschaft und Kunst ihr einen | |
| Platz in der ersten Reihe der Kultur sichern können. | |
| Gassenhauer sind oft „moralischer“ als Beethovensche Symphonien. Stücke wie | |
| „Marriage of Kitty“ sind „moralischer“ als irgend ein Meisterwerk von | |
| Curipides oder Ibsen. Millais ist „moralischer“ als Mantegna: das ist der | |
| Grund, warum an Beethoven und Ibsen und Mantegna verhältnismäßig wenig zu | |
| verdienen ist. Der Londoner Junge kann von einem Straßenorchester | |
| gelegentlich ein wenig Beethoven vorgespielt bekommen und das Werk | |
| Mantegnas mag er in der National Gallery sehen. Ibsen kann wohlfeil (auf | |
| Yiddish) im Pavillion Theatre in Whitechapel gesehen werden. | |
| Aber die namenlosen Vertreter einer über die ganze Welt verbreiteten | |
| Volkstümlichkeit sind unumschränkte Besitzer des Kinematographen. Der | |
| Schrei (wenn auch kein sehr lauter!) nach pädagogischen Filmen, das heißt | |
| (soweit meine Erfahrung reich) nach etwas, das mit einem Kampfe zwischen | |
| einem Seepolypen und einem Hummer endet, ertönt bereits. Ich glaube, was | |
| man wirklich wünscht, ist die öffentliche oder private Dotierung eines | |
| Kinematographentheaters, das sich ausschließlich dem Zwecke widmet, die | |
| gangbare Moral zu züchtige, indem es sie lächerlich macht. | |
| Andernfalls wird die nächste Generation der Engländer nicht länger Englisch | |
| sein: sondern einen Weltdurchschnitt des Charakters und der Lebensführung | |
| darstellen, was so viel bedeutet, als dass sie über eine beträchtlich | |
| geringere Tüchtigkeit verfügen wird, als nötig wäre, um Lappland zu | |
| erobern. Ich werde mich glücklich schätzen, einige Musterszenarien | |
| beizusteuern. | |
| Quelle: Berliner Tagblatt | |
| 19 Jul 2014 | |
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