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# taz.de -- Nachrichten von 1914 - 17. Juli: Die schirmlosen Berlinerinnen
> Nach Handschuhen und Hüten droht nun auch der Sonnenschirm aus der
> Damenmode zu verschwinden. Schuld dürfte auch der Aufstieg der Handtasche
> sein.
Bild: Nicht nur der Sonnenschirm fehlt: Berliner Frauen 1914.
Bei den Dessous fing der große Umsturz in der Damenkleidung an; progressiv
verbreitete er sich dann auf die Hände, für die es nicht mehr als
unehrenhaft galt, sich unbeschuht in der Öffentlichkeit zu zeigen, und
schließlich stieg die Revolution bis auf den Kopf der Dame und fegte ihr
den Hut von der Frisur, die nun unter Licht und Sonne und nicht mehr
ausschließlich unter dem Brenneisen erblühte. Jetzt ist die äußerste
Konsequenz der unbehuteten Mode eingetreten: der Sonnenschirm, das
altvertraute Zepter weiblicher Anmut und Würde, und die ultima ratio im
äußersten Notfall, wenn alle andern Waffen nichts mehr fruchten, ist
gefallen. Er ist aus der Mode und aus der Gunst der Damen gekommen.
Seine aufgeblähte Herrlichkeit ist zusammengeklappt, er ist in das Dunkel
des Kleiderschrankes getaucht und träumt hier in einsamer Ecke von der
sonnendurchglühten Heiterkeit vergangener Tage, da sein Stiel in schönen
Händen kokett balanciert und sein Dach zarte Gesichter behütete, damit kein
zudringlicher Strahl aus Helios frechem Antlitz auf sie fiele.
Was ist Schönheit? Hundertmal hat man den Gazekescher über den schillernden
Schmetterling gestürzt und wenn man zusah, war er doch nicht drin sondern
flatterte drüber hinweg. Und man begnügte sich mit der Feststellung, dass
die Schönheit ein ewig sich wandelnder Begriff sei, heute dies und morgen
jenes bedeute. Der Sonnenschirm und alles, was an ihn sich knüpft, ist ein
Schwurzeuge für diese Theorie. Und als ich neulich an einem Schrank
vorüberging, in dem ein weißer, ein roter und ein grüner Sonnenschirm
trauern, hörte ich ein Lispeln und Raunen hervordringen, und als ich mein
Ohr an das Schlüsselloch legte, vernahm ich deutlich, wie der weiße
Sonnenschirm zu seinen Kameradinnen mit verbitterter Ironie sprach: „Ja, so
sind die Herrinnen, denen wir zu dienen berufen und willig sind. Früher
konnte der Teint der Damen nicht weiß und zart genug sein.
Da legten sie sich nachts Schnitten aus der Keule eines
frischgeschlachteten, vier Wochen alten Kalbes auf die Wangen und banden
sie fest mit Binden und Bandagen, damit sie nicht verrutschten, sondern die
Haut so zart und weich machten wie feuchtes Seidenpapier.“ „Und die Ströme
der Benzoetinktur, die früher des Morgens und Abends zur Toilette benötigt
wurden!“ fiel der rote ein; „es sollte mich nicht wundern, wenn jetzt auf
dem Weltmarkt eine furchtbare Baisse in „Jungfrauenmilch“ sich bemerkbar
macht.“
## Von den Damen gebraucht wie das tägliche Brot
Jetzt unterschied ich auch das schwärmerische Stimmchen des grünen
Sonnenschirmes: „O, erinnert ihr euch noch der seligen Zeiten, als die
Kaiserin Poppäa, wenn sie in die Campagna zog, tausend und soviel Eselinnen
in ihrem Trosse mit sich führte und mit deren seimigem Nährsaft sich wusch,
um weiß wie Milch und rosig wie eine Blüte auszusehen? Dort, dort liegt
unsere große Vergangenheit. Damals hatten unsere Ahnen ein Format, dem
gegenüber wir nur Epigonen und Degenerierte sind. Damals wurden wir von den
Damen gebraucht wie das tägliche Brot.“ „Das kommt aber daher, resümierte
der kluge, weiße Schirm, dass andere Zeiten andere Moden bringen. Nicht der
bleiche, an die Farbe der Kellerschößlinge erinnernde Teint ist jetzt
beliebt, sondern der leicht angebräunte aus den ersten Stadien vor der
totalen Verbranntheit. Jener glänzende goldige Reif, der das Gesicht so
leicht überfliegt wie ein liebreizendes Erröten. Und alles was recht ist,
diese neue Teintmode steht gar vielen nicht übel.“
So raunen untereinander die Schirme. Aber auch die Stimme eines Kaufmanns
hörten wir, der sich zur Lebensaufgabe gesetzt hat, die Damen mit recht
vielen und schönen Sonnenschirmen zu beglücken. Und er sagte: Seit sechs
Jahren ist ein ständiger Rückgang in der Produktion der Sonnenschirme zu
verzeichnen, und er hat in diesem Jahre seine höchste Ziffer erreicht.
Gegen früher ist der Verbrauch an Sonnenschirmen um 25 Prozent geringer
geworden, und er wird für die nächste Zeit sicherlich noch mehr
zusammenschrumpfen.
Um uns noch Absatz zu verschaffen, müssen wir uns eifriger als je bemühen,
Neuheiten auf den Markt zu bringen, die überraschen und Käufer anlocken. So
waren der nach außen und nach innen gerichtete Glockenschirm und der
Klappschirm für das Automobil Schlager, die gezogen haben. Schuld an dem
Aussterben des Sonnenschirmes hat unzweifelhaft auch die Mode der
Handtaschen. Diese machen eine Hand unfrei, und da die Damen auf ihren
Gängen doch wenigstens eine Hand frei zur Verfügung haben müssen, entlasten
sie sich vom Sonnenschirm. Aber die Hauptursache liegt doch in dem Wechsel
der Mode und in der Formation des neuen und allerneusten Menschen!
Quelle: Berliner Tagblatt
17 Jul 2014
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