# taz.de -- Bürgerwissen ist gefragt: Forschungs-Hiwis oder Partner? | |
> Die erste Citizen-Science-Konferenz in Berlin beriet über | |
> Bürgerwissenschaft. Befürchtet wird, dass Laienforscher nur als | |
> Hilfskräfte dienen sollen. | |
Bild: Jung und Alt machen mit bei der jährlichen Zählung der Nachtfalter in G… | |
BERLIN taz | Durch die deutsche Wissenschaft schwappt eine neue Welle: | |
„Citizen Science“. Wissenschaftliche Laien sollen an der Forschung | |
beteiligt werden. Auf der ersten Konferenz zur Bürgerwissenschaft in dieser | |
Woche in Berlin wurden aber auch kritische Stimmen laut: Echte | |
Wissenschaftspartizipation muss mehr sein als ehrenamtliches | |
Insektenzählen. Bürger wollen auch über die Forschungsinhalte mitbestimmen. | |
Der erste Aufschlag kam von der Wissenschaft. Veranstaltet wurde der | |
[1][„Citizen Science Thinktank-Workshop“ (pdf)] vom [2][Berliner Museum für | |
Naturkunde] und dem [3][Umweltforschungszentrum in Leipzig]. Es war | |
zugleich die Startveranstaltung für das Konsortium [4][„Gewiss – Bürger | |
schaffen wissen“], in dem neun Forschungseinrichtungen in den nächsten zwei | |
Jahren an einer Citizen-Science-Strategie arbeiten wollen. | |
Konsortiumssprecherin Aletta Bonn (UFZ) unterstrich den „offenen Anfang“ | |
des Treffens, bei dem Ideen und Inputs gesammelt und gebündelt werden | |
sollten. „Wo sind die Potenziale? Wo sehen wir es vielleicht auch zu | |
romantisch?“ seien Fragen, die beantworten werden sollen, um zu einer | |
deutschen Strategie bis 2020 zu gelangen. In England und den USA gebe es | |
eine große Tradition des „Volunteering“. Und in Australien sei auf diese | |
Weise sei die Biodiversitätserhebung „[5][Atlas of Living Australia]“ | |
entstanden. Vielleicht ein Vorbild für Deutschland. | |
Die Veranstaltung in der Berliner Kalkscheune hatte 120 Teilnehmer, | |
überwiegend Wissenschaftler und nur wenige Vertreter von Naturschutzgruppen | |
und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das | |
Bundesforschungsministerium fördert das „Gewiss“-Projekt bis 2016 mit | |
550.000 Euro, hinzu kommt noch die Förderung der Internet-Plattform | |
[6][www.buergerschaffenwissen.de] mit 240.000 Euro für drei Jahre. | |
Treibende Kraft der Citizen-Science-Bewegung in Deutschland ist der | |
Generaldirektor des Naturkundemuseums, Johannes Vogel. Vor seinem Berliner | |
Amt war er Botanikkurator am legendären Londoner [7][Natural History | |
Museum], und baute dort die Citizen-Science-Abteilung auf 14 Mitarbeiter | |
aus. | |
„Demokratie braucht wissenschaftlich sprechfähige Bürger“ ist Vogels Cred… | |
und aus seiner Tätigkeit im nicht unumstrittenen deutschen | |
[8][Bioökonomierrat] wisse er: „Wir müssen die Menschen bei neuen | |
wissenschaftlichen Richtungen mitnehmen und Teilhabe gewährleisten.“ | |
Den Umfang der Wissenschaftsinteressierten in Deutschland schätzte Vogel | |
auf der „Gewiss“-Tagung auf die Hälfte der Bevölkerung. Davon seien drei | |
bis fünf Prozent für eine engere Kooperation mit Wissenschaftler zu | |
gewinnen, ein Prozent seien es derzeit. | |
Der neue Präsident der [9][Leibniz-Gemeinschaft], Matthias Kleiner, | |
plädierte dafür, den Themenbereich alsbald über die Naturwissenschaften | |
auch auf die Geistes- und Sozialwissenschaften auszuweiten. | |
## Freiwillige Helfer und Akzeptanzstrategie | |
Die Interessen sind unterschiedlich. Während die praktischen Forscher sich | |
über freiwillige Helfer freuen, die Wildschweine in der Stadt zählen oder | |
nächtliche Lichtverschmutzung messen, mithin harte Daten wollen, haben | |
Forschungspolitiker den weichen Faktor, die gesellschaftlichen | |
Wissenschaftsakzeptanz, im Blick. | |
Matthias Graf Kielmannsegg, der seit Februar im Bundesforschungsministerium | |
(BMBF) für strategische Fragen zuständig ist, bezeichnete es als Ziel | |
seines Hauses, die Wissenschaft für die Bürger zugänglicher zu machen und | |
Schranken abzubauen. Auch wenn an Wissenschaft mit Bürgerbeteiligung die | |
Frage gestellt werde: „Ist das noch ernsthafte Wissenschaft?“, liege aus | |
Sicht der BMBF in Citizen Science „eine große Chance für Bürger wie für d… | |
Wissenschaft“. | |
Dies impliziere auch neue Formen der Kommunikation zwischen beiden Seiten. | |
„Das wird Anstrengung bedeuten.“ Es gehe um eine Verbesserung der | |
Debattenkultur und einen stärker rationalen Diskurs „zwischen den | |
getrennten Welten“ der Wissenschaft und der Gesellschaft. Kielmannsegg | |
verwies an dieser Stelle auf den Streitpunkt der „Grünen Gentechnik“, ließ | |
aber offen, ob dieses heute für Deutschland politisch verbrannte | |
Forschungsfeld mit einer „neuen Debattenkultur“ doch hätte erhalten werden | |
können. | |
## Veränderungen notwendig | |
Der BMBF-Mann sprach von einem „grundsätzlichen Wandel hin zur | |
Partizipation“, dem sich auch die Forschungspolitik stellen müsse. | |
„Kulturwandel in der Partizipation“, „Wandel in der Transferkultur“ –… | |
wieder klingelten die Change-Metaphern in der Rede des BMBF-Strategen. | |
Dass dies auch Veränderungen aufseiten des Wissenschaftssystems mit sich | |
bringen wird, ließ er bei einer kurzen Bemerkung zu politischen gewünschten | |
„Missionsorientierung“ der Forschung durchblicken, also der Verpflichtung | |
zur Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen wie etwa dem | |
Klimawandel. Dieser „Knackpunkt“ – der nicht nur andere | |
Kommunikationsformate zwischen Wissenschaft und Gesellschaft erfordert, | |
sondern eine andere Selbstdefinition von Wissenschaft in der Gesellschaft – | |
wurde in den Workshops aber nur am Rande angeschnitten. | |
Andreas Kraemer vom unabhängigen Berliner [10][Umweltinstitut Ecologic] | |
kritisierte, dass Citizen Science „von der größeren Problematik der | |
Einbindung der Zivilgesellschaft in die Wissenschafts- und | |
Forschungspolitik, in ihre Themenfindung, Prioritätensetzung, | |
Wissensgewinnung und Interpretation neuen Wissens, nur ablenkt“. | |
## Demokratisierung verhindern | |
Es stelle sich die Frage, so Kraemer: „Soll hier das wissenschaftlich, vor | |
allem das tendenziell konservative, naturkundlich interessierte Volk | |
lediglich kooptiert und damit eine echte politische Demokratisierung | |
verhindert werden?“ | |
Für den Bielefelder Wissenschaftstheoretiker Peter Finke, der im Frühjahr | |
das erste [11][Buch in Deutschland zu Citizen Science] veröffentlicht hat, | |
ist der Gesichtspunkt der Domestizierung noch gewichtiger: Die | |
professionellen Wissenschaftslenker in den Hochschulen und | |
Forschungsinstituten wollten die freie Bürgerwissenschaft mittels | |
Citizen-Science-Kooperationen an die Leine legen. | |
„Die bislang von diesen Lenkern unbeachtete, von Stellen, Hierarchien und | |
Nutzungsinteressen freie Wissenschaft der Bürger ist der letzte Bereich, in | |
dem Wissenschaft noch anarchisch vonstatten geht, wo die | |
Forschungsinteressen des Einzelnen dominieren und nicht die | |
Lenkungsinteressen des Staats oder des Markts“, warnte Finke gegenüber der | |
taz. Und er fügt hinzu: „Wenn die Interessen der Profiwissenschaft auch | |
dieses Restbiotop gefährden, ist Widerstand angesagt.“ | |
11 Jul 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.buergerschaffenwissen.de/sites/default/files/assets/dokumente/th… | |
[2] http://www.naturkundemuseum-berlin.de/ | |
[3] http://www.ufz.de/index.php?de=32981 | |
[4] http://www.buergerschaffenwissen.de/ | |
[5] http://www.ala.org.au/ | |
[6] http://www.buergerschaffenwissen.de | |
[7] http://www.nhm.ac.uk/ | |
[8] http://biooekonomierat.de/ | |
[9] http://www.leibniz-gemeinschaft.de/ | |
[10] http://www.ecologic.eu/de | |
[11] http://www.oekom.de/buecher/vorschau/buch/citizen-science.html | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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