| # taz.de -- Fußball-WM in Verruf: Brot und Spiele | |
| > Sportlichen Großereignissen wird Volksverdummung nachgesagt. Doch Sport | |
| > ist immer egalitär. Das Problem sind die, die nicht die WM schauen. | |
| Bild: Die Fußball-Weltmeisterschaft als gigantische Maschinerie mit dem Ziel d… | |
| Der Vorwurf ist fast 2.000 Jahre alt: Ängstlich und unpolitisch sei das | |
| römische Volk geworden, klagte der Dichter Juvenal, nur noch für Brot und | |
| Spiele interessiere es sich – die Machthaber hätten leichtes Spiel, wenn | |
| sie nur die niederen Instinkte der Massen bedienten. | |
| Auch in den klassischen Diktaturvisionen Aldous Huxleys („Schöne Neue | |
| Welt“, 1932) und George Orwells („1984“, 1949) bedienen sich die Machthab… | |
| nicht zuletzt des Entertainments, um das Volk – bei Orwell die Proles – | |
| zahm und ungefährlich zu halten. Fressen, ficken, fernsehen, sagt man | |
| heute. | |
| Ist es also das, was wir in den vergangenen vier Wochen dieser | |
| Fußballweltmeisterschaft in Brasilien erlebt haben? Haben wir einer | |
| gigantischen Maschinerie beigewohnt, deren einziges Ziel es ist, | |
| gemeinschaftliche Emotionen in falsche Bahnen zu lenken und Widerspruch gar | |
| nicht erst aufkommen zu lassen? | |
| Vier Wochen, in denen Fußball geschaut wurde, statt die Flüchtlinge in | |
| Berlin-Kreuzberg zu unterstützen, in denen über Suarez’ Beißattacke | |
| diskutiert wurde, statt für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu | |
| demonstrieren, in denen die „nationale Schmach“ der Brasilianer bejubelt | |
| oder beweint wurde, statt sich über die wahrhaftige Demütigung der | |
| Bundesregierung durch die USA aufzuregen? | |
| ## Anfällig und verdächtig | |
| Das mag einleuchtend klingen, aber es ist tatsächlich Unsinn. Denn es ist | |
| einerseits viel schlimmer: Kein Mensch mehr hätte gegen die Räumung der von | |
| Flüchtlingen besetzten Schule in Kreuzberg protestiert, wenn es abends | |
| keinen Fußball gegeben hätte, und am Brandenburger Tor würden auch dann | |
| nicht Tausende gegen Fracking demonstrieren, wenn dort nicht gerade | |
| Fanmeile wäre. | |
| Und es ist, andererseits, arrogant: Als ob der Fußballfan auch nur | |
| irgendwie besser prädestiniert dafür wäre, gesellschaftliche Missstände | |
| nicht wahrzunehmen, als der Oberstudienrat, der seine Abende damit | |
| verbringt, Note für Note die Einspielungen der Beethoven-Sonaten von Artur | |
| Schnabel von 1932 bis 1935 mit denen von András Schiff von 2004 bis 2006 zu | |
| vergleichen. | |
| Es gibt keinerlei Grund, denjenigen als sozial kompetenter und mündiger zu | |
| betrachten, der noch genau weiß, wer bei der Wiedereröffnung des Wiener | |
| Burgtheaters im Oktober 1955 Mozarts „Kleine Nachtmusik“ dirigierte, als | |
| denjenigen, der sich an die Spieler erinnert, die dem HSV 1955/56 die | |
| Norddeutsche Meisterschaft erkämpften. | |
| Warum ist es also immer Fußball, warum sind es immer sportliche | |
| Großereignisse, die den Verdacht der Volksverdummung auf sich ziehen? Zum | |
| einen weil sie in Versuchung führen. Olympia in Deutschland 1936, WM in | |
| Argentinien 1978 – das waren tatsächlich erfolgreiche | |
| Instrumentalisierungen. Und natürlich: Je mehr Menschen sich für ein | |
| Ereignis begeistern, desto anfälliger dafür und also verdächtiger erscheint | |
| es. | |
| ## „Opium des Volkes“ | |
| Eine Schach-WM wird nun einmal nicht die Aufmerksamkeit erregen wie eine | |
| Fußballweltmeisterschaft der Männer. Fußball-WM und Olympia – es gibt | |
| nichts anderes, was überall auf der Welt gleichzeitig beobachtet wird. Wir | |
| haben von den [1][Anschlägen der Boko Haram] auf | |
| Public-Viewing-Veranstaltungen in Nigeria gehört und davon, dass nichts | |
| außer Fußball die ethnischen, sozialen und religiösen Trennlinien der | |
| Nigerianer überwindet. | |
| Wir haben gehört, wie im Gazastreifen am Mittwochabend neun Palästinenser | |
| starben und 15 weitere verletzt wurden, als eine israelische Bombe das | |
| Fun-Time-Beach-Café traf, wo die Menschen das Spiel zwischen Argentinien | |
| und den Niederlanden verfolgten. Zur gleichen Zeit brachten sich in Tel | |
| Aviv die Menschen in Sicherheit, als Sirenen sie vor herannahenden | |
| Kassam-Raketen warnten. Man könnte es so sagen: Das Problem sind nicht die, | |
| die Fußball schauen, es sind die, die das nicht tun. | |
| Eine Fußballweltmeisterschaft beschäftigt die Menschen, ja. Sie lenkt auch | |
| ab – und manchmal ist das auch gut so. Der brasilianische Verteidiger David | |
| Luiz sagte nach dem 1:7 weinend in die Kameras, er habe den Menschen in | |
| Brasilien, die ohnehin so viel zu leiden hätten, Freude bereiten wollen, | |
| und entschuldigte sich. Luiz hatte 2013 die großen Volksproteste offen | |
| unterstützt. | |
| Sport, gerade Fußball, ist sozial durchlässiger als die meisten anderen | |
| Lebensbereiche. Auf dem Platz zählt nicht, ob die Eltern des Spielers reich | |
| oder arm sind. Sport ist per se egalitär – und so sollte er auch | |
| organisiert sein. Das hieße, dass in Zukunft eine WM in Brasilien so wird, | |
| wie die Brasilianer sie ausrichten würden, nicht, wie die Fifa es | |
| vorschreibt. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, statt dünkelhaft über den | |
| Fußball als „Opium des Volkes“ zu mosern. | |
| 12 Jul 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernd Pickert | |
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