# taz.de -- Politik und Fußball in Brasilien: „Was geht mich das an?“ | |
> Die Brasilianer sind wütend – und waren es auch schon vor der WM. | |
> Währenddessen inszenieren die Medien Pannen, Jubel und Trauer. | |
Bild: Vergebens: Mitfiebern beim Spiel um Platz 3. | |
Bei jedem holländischen Tor kam Jubel auf. Kein richtiger, sondern | |
hämischer Jubel. Vielleicht 40 Leute schauten das Spiel in der etwas | |
heruntergekommenen Kneipe, alle waren natürlich für Brasilien, aber nur | |
einer hatte ein gelbes T-Shirt an. Nach dem 2:0 begannen vier Männer, | |
Karten zu spielen, und es wirkte nicht einmal demonstrativ. Trauer lag | |
nicht in der Luft, auch war nicht das Bedürfnis zu spüren, einen Schock zu | |
verarbeiten. Wenn überhaupt, dann Wut, und eine gewisse Scham ob des | |
weltweiten Publikums, das dem peinlichen Ende des Gastgebers Brasiliens bei | |
dieser WM beiwohnt. | |
Nicht einmal die Angst, Argentinien könnte just im Maracanã seinen drittel | |
Titel holen, bewegt die Brasilianer. Die WM interessiert nicht mehr, aber | |
nicht, weil das 1:7 gegen die Deutschen so traumatisch gewesen wäre. Jetzt | |
wird noch deutlicher als zuvor, dass es von Beginn an gar nicht ihre WM | |
gewesen ist, besser gesagt seit Juni 2013, als die Protestwelle vieles im | |
Land und vor allem auch das Selbstbild der Brasilianer erschütterte. | |
Es setzte ein Prozess ein, der so langwierig ist wie schwer zu | |
interpretieren. Deutlich wird er nur in Stimmungen: Es gab keine richtige | |
Begeisterung, viel weniger geschmückte Straßen als sonst, und am meisten | |
wunderten sich die Brasilianer selbst darüber. Aber gerne ließen sie sich | |
von den angereisten Fans und den spannenden Spielen anstecken und feierten | |
das Spektakel. Alle wussten, dass die Mannschaft schlecht war und ein | |
einziger Neymar es nicht reißen wird. Aber gerne glaubten sie dem | |
TV-Einpeitschern, die das Gegenteil behaupteten. | |
Präsidentin Dilma Rousseff sagte vor dem Spiel, dass das, was in den | |
Stadien passiert, keine Auswirkungen auf die Politik haben wird. Das gilt | |
für den Sport, aber nicht für Planung und Organisation im Vorfeld der | |
Spiele. Zwar wussten die Brasilianer, und offenbar nur sie, dass es keine | |
großen Pannen geben werde, denn in Brasilien klappt eigentlich immer alles | |
auf den letzten Drücker. | |
Aber die Stadien, von denen zahlreiche in Zukunft nicht richtig genutzt | |
werden, und die nicht gebauten Verkehrsprojekte und vor allem die verfehlte | |
Stadtplanung, all dies wird die Menschen weiter beschäftigen. Bei jedem | |
Blick auf diese weißen Elefanten, oder im täglichen Stau wird das Gefühl | |
vor allem Wut sein auf das, was nicht oder was falsch gemacht wurde. | |
## Brasilien feierte höflich mit | |
Auch das Sicherheitskonzept, das angeblich so gut funktioniert hat, kann | |
noch zum Boomerang werden. In Bezug auf die Proteste - und das war neben | |
gelegentlicher Fan-Randale der einzige brisante Aspekt – gab es keine | |
Sicherheit, sondern ausschließlich Repression. Völlig überzogen angesichts | |
der geringen Demo-Lust während der WM, und jenseits rechtsstaatlicher | |
Grenzen. | |
Allein in Salvador sind über 45 Menschen bei kleinen Protestaktionen | |
festgenommen worden, obwohl es alles andere als ein Protestzentrum war. Und | |
in Rio de Janeiro wurden 48 Stunden vor dem Finale 19 Menschen in | |
Vorbeugehaft genommen, sieben weitere werden gesucht. Amnesty International | |
bezeichnete diese Maßnahmen als „besorgniserregend, da es ein weiterer Akt | |
der Einschüchterung“ sei und das Recht auf Meinungsfreiheit einschränke. | |
Eine Bilanz jenseits des grünen Rasens zu ziehen ist kompliziert, weil es | |
sich bei einer WM vor allem um ein Medienereignis handelt. Selten zuvor | |
haben Journalisten – sprich das brasilianische Oligopol der geradezu | |
gleichgeschalteten Massenmedien, die von wenigen einflussreichen Familien | |
kontrolliert werden – soviel Einfluss auf die Wahrnehmung des Geschehens | |
genommen und die eigene Bevölkerung wie auch die ausländische Presse so | |
sehr an der Nase herumgeführt: Im Vorfeld schrieben sie einen | |
Organisations-Gau herbei, wobei es ihnen nur darum ging, die verhasste | |
Präsidentin zu schwächen. | |
## Inszenierte WM-Party | |
Alle schreiben es ab, doch danach klappte plötzlich alles. Dann wurde die | |
große WM-Party inszeniert, ohne zu berücksichtigen, dass die Brasilianer | |
vor allem höflich mitfeierten und es die Ausländer waren, die die gute | |
Stimmung mitbrachten. Und nach dem Debakel steht im In- und Ausland | |
geschrieben, dass Brasilien trauert und vor einem neuen Trauma steht. Doch | |
die Brasilianer sagen vielmehr „to nem aí – was geht mich das an?“ | |
Es war keine schlechte WM, im Gegenteil. Aber der Gastgeber war mit sich | |
selbst beschäftigt, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht aus | |
dieser Rolle gefallen ist. Deswegen ist 2014 auch nicht eine Neuauflage des | |
Traumas von 1950. Vielmehr relativiert das 7:1 das Trauma, denn damals | |
hatte Brasilien sehr gut gespielt. | |
Es könnte sogar zur Überwindung des Traumas beitragen, denn statt einem | |
Minderwertigkeitskomplex steht jetzt Handeln an. So wie es jetzt ist, soll | |
es weder im Fußball noch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft | |
weiter gehen. Das Aufbruchssignal waren die Demonstrationen im vergangenen | |
Jahr, die WM nur ein Moment auf diesem Weg. | |
13 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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