# taz.de -- Daniel Cohn-Bendit über seine WM-Tour: „Es gibt nur einen Socrat… | |
> Der Brasilien-Reisende Daniel Cohn-Bendit über seine WM-Erfahrungen, den | |
> Illusionismus der brasilianischen Gesellschaft und die deutsche | |
> Fußball-„Maschine“. | |
Bild: Daniel Cohn-Bendit beim Besuch einer Pressekonferenz des französischen T… | |
Daniel Cohn-Bendit, 69, hat er das EU-Parlament hinter sich gelassen und | |
ist während der WM mit einem Camping-Bus namens Sócrates durch Brasilien | |
gefahren, um für Arte einen WM-Film und den Videoblog „Danys Day“ zu | |
machen. Hier sein Fazit. | |
Und, Herr Cohn-Bendit, wer wird Weltmeister? | |
Ein kluger Priester der afrobrasilianischen [1][Candomble]'-Religion sagte | |
mir vor dem Halbfinale meine Zukunft voraus. Bei der Gelegenheit stellt ich | |
ihm genau diese Frage. Er weigerte sich, seine Muscheln zu werfen. | |
Schließlich sagte er: Brasilien wird nicht gewinnen, weil Brasilien nicht | |
gewinnen darf. Weil diese WM die vielen Probleme nur verdeckt. Er will, | |
dass Deutschland gewinnt. Weil es da mehr soziale Gerechtigkeit gäbe. | |
Ihr Wunschfinale Brasilien-Argentinien gibt es jedenfalls nicht und Ihre | |
Franzosen sind auch von Joachim Löws Mannschaft nach Hause geschickt | |
worden. Was sagen Sie dazu? | |
Wenn du über die deutsche Wirtschaft sprichst, was sagst du dann? | |
Effizient, gut organisiert, hohes technisches Niveau. So ist auch das | |
deutsche Team: Eine gut funktionierende Maschine. Und Deutschlands erstes | |
Tor gegen Brasilien hätte sogar ich noch reingemacht. | |
Ich bitte Sie: Das kann doch unmöglich unser Gesprächsniveau sein. | |
Na, gut, dann sagen wir: Ein hochtechnisiertes, funktionierendes | |
Leistungsgefüge. Die Paarung von individueller Klasse und kollektiver | |
Intelligenz. Aber der Finalgegner Argentinien hat seine Stabilität auch | |
gefunden, anders als Brasilien. Die Fragen werden sein: Wie ist es, wenn | |
die Deutschen unter Druck kommen? Und können sie Messi aus dem Spiel | |
nehmen? | |
Wie gehen die Brasilianer nach dem 1:7 mit den Deutschen um? | |
200 Millionen Brasilianer stehen jetzt hinter Deutschland. Nach der Wunde | |
von 1950 und der [2][Demütigung vom Dienstag] droht für die Brasilianer ja | |
jetzt erst die Höchststrafe: Ein Sieg der verhassten Argentinier im | |
Maracana. | |
Sie sind während der WM durch Brasilien gereist, um den politischen Fußball | |
zu finden und für Arte zu verfilmen. Was haben Sie gefunden? | |
Ich habe ehemalige Nationalspieler mit politischer Reflektion gefunden wie | |
Rai, den Bruder von Socrates und andere. Es gibt eine Art | |
Gewerkschaftsbewegung, auch viele aktuelle Profis haben eine soziale Ader. | |
Aber die brasilianische Gesellschaft ist heute anders politisiert als vor | |
30 Jahren und soziale Fragen sind schwierig zu beantworten. | |
Warum dieser wahnsinnige Druckaufbau, die gleichzeitige Zerstörung und | |
Glorifizierung Spielgedankens, die obsessive Reduzierung auf den Sieg? | |
Das ist das Problem Brasiliens. So wie Deutschland geprägt ist von einem | |
Wunsch nach Effizienz, ist Brasilien geprägt von dem Bedürfnis nach | |
Emotionen. Das wollen sie auch vom Fußball; Ekstase und einen emotionalen | |
Ausnahmezustand. Dann kam noch der Druck, den vor allem das Monopolmedium | |
Globo aufgebaut hat: Das war einfach zu viel für die Spieler. | |
Wie erleben Sie den Umgang mit der Niederlage? | |
Kaum hatten sie gegen Deutschland verloren, sagt Pele: Dann gewinnen wir | |
halt 2018 in Rußland. Das ist die Selbstüberschätzung, die diese | |
Gesellschaft auch prägt. Die wird auf den Fußball übergeleitet. | |
Der in Brasilien gespielte Fußball kann doch mit Europas Topligen nicht | |
konkurrieren. | |
Die WM ist ein Moment, an dem eine Nation zusammenfinden will. Das muss man | |
verstehen. Brasilien produziert die besten Fußballer mit herausragenden | |
individuellen Fähigkeiten, die in allen europäischen Ligen spielen. Aber | |
der Alltag im Land sind tatsächlich geringe Zuschauerzahlen und ein | |
brasilianischer Fußball, der als Stil oder Kollektiv stinklangweilig ist | |
Dennoch redet sich Brasilien notorisch ein, dass man den besten und den | |
schönsten Fußball spielt. Fällt der Widerspruch zur Realität wirklich | |
niemand auf? | |
Tja. Nicht nur der Fußball auch der brasilianische Lebenstil ist ein | |
permanentes Produzieren von Illusionen. Der Karneval, die Musik: Das ist | |
eine Lebensform, die auf der Illusion von Spaß basiert. | |
Das Volk wird im Postkapitalismus durch Massenkultur ruhig gestellt? | |
Ach. Die deutsche Gesellschaft hat etwas Selbstgerechtes, die | |
brasilianische Gesellschaft hat in ihrem Gehabe etwas Kindliches. Das ist | |
manchmal faszinierend und manchmal nervtötend. In der Realität sind | |
Schönheit und Gewalt oft ganz nah beieinander. Salvador etwa ist überhaupt | |
nicht mehr diese Happy Life-Beach-Stadt, wie ich das vor 30 Jahren | |
empfunden habe. Letztes Jahr wurden in Brasilien knapp 60.000 Leute | |
ermordet, das musst du immer im Kopf haben. | |
Wird die WM einen [3][Einfluss auf die Wiederwahl von Präsidentin Dilma | |
Rousseff] von der Arbeiterpartei PT haben? | |
Allein, dass der Zusammenhang ernsthaft diskutiert wird, ist schon | |
bedenklich. Als habe Dilma die Mannschaft aufgestellt. Schwellenländer sind | |
Schwellenländer, das heisst: Sie sind an einer zivilisatorischen Schwelle. | |
Die linke Regierung hat die Ärmsten mit einem gewissen Grundeinkommen aus | |
der Armut rausgenommen, aber da Bildung nicht gefolgt ist, bleiben diese | |
unfassbaren Ungleichheiten bestehen. | |
Ihr Bus heißt Socrates nach dem Kapitän der Selecao, der in den 80ern | |
schönen Fußball, sPatriotismus und politischen Widerstand in sich vereinte. | |
Wie wird er heute rezipiert? | |
Bei dem Namen kriegen viele leuchtende Augen. Der Mythos ist stark, auch | |
bei jungen Leuten. Aber es gibt keinen zeitgemäßen Ausdruck. Das ist eine | |
Erkenntnis meiner Reise: Es gibt nur einen Che und es gibt nur einen | |
Socrates. | |
Beide sind tot, wie geht es Ihnen? | |
Der Candomble'-Priester sagte mir noch ein langes Leben voraus. | |
12 Jul 2014 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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