# taz.de -- Brasilien nach dem Halbfinale: Ausschlachten der Niederlage | |
> Die Schmach als Wahlkampfthema? Regierung und Opposition streiten über | |
> die Deutung des Desasters auf dem Rasen. | |
Bild: Ist das schon Politik? Enttäuschte brasilianische Fans während des Halb… | |
RIO DE JANEIRO taz | Fußball ist Sport, und Politik ist was anderes. Auch | |
in Brasilien. Doch nur wenige Stunden nach dem Schock über die blamable | |
Niederlage gegen die Deutschen im Halbfinale geht das Gezänk um die | |
politische Reichweite des Ereignisses los. Präsidentin Dilma ging | |
vorsichtshalber gleich in die Offensive: „Den Titel haben wir verloren, | |
aber die #CopadasCopas, die beste WM aller Zeiten, ist unsere“, schreibt | |
sie auf Facebook. | |
Sie will die gute Stimmung während des Turniers, den Enthusiasmus über die | |
packenden Spiele und die doch recht reibungslose Organisation mit in den | |
Wahlkampf nehmen. Am 5. Oktober tritt sie zur Wiederwahl an und die | |
Opposition will mit allen Mitteln verhindern, dass die Kandidatin der | |
Arbeiterpartei PT eine vierte Amtszeit in Folge gewinnt. | |
„Das Spiel war ein Desaster, aber niemand kann die Regierung oder Rousseff | |
dafür verantwortlich machen“, assistiert Kommunikationsminister Paulo | |
Bernardo. Der Minister für Tourismus, Vinícius Lages, hört sich schon an | |
wie ein Wahlkämpfer: „Der Erfolg dieser WM lag nicht am Wirken der Seleção. | |
Wir waren Giganten in der Gastfreundschaft und im liebevollen Umgang mit | |
den Besuchern.“ | |
Die Menschen hier neigen nicht zum Eigenlob, sie genießen es vielmehr, | |
gelobt zu werden. Dass diese Grundregel nicht eingehalten wird, liegt an | |
den für die Regierenden traumatischen Monaten vor dem Spektakel. Nicht so | |
sehr wegen der Proteste oder linken Demonstrationen, die teils auf die | |
zahlreichen Missstände und Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machten, | |
teils recht kämpferisch #EswirdkeineWmgeben propagierten. Sondern wegen der | |
rechten Opposition, die aus den Protesten und vor allem aus den Fehlern und | |
Mängeln in der Vorbereitung politisches Kapital schlagen wollte. | |
## Rechte Politiker wittern Chance | |
Medien und rechte Politiker hatten ein Scheitern der WM monatelang geradezu | |
herbeigeschrieben oder -gewünscht. Pech für sie, dass dann doch alles | |
klappte. Und dass die ausgelassenen Besucher und die prächtigen Spiele | |
sogar die Brasilianer ansteckten und die schlechte Stimmung wegbliesen. Bis | |
zum fatalen 1:7. Jetzt wittern sie die Chance, die Präsidentin, deren | |
Beliebtheitswerte in den Umfragen gerade wieder ansteigen, wieder für alles | |
Unheil im Land verantwortlich zu machen. | |
Wie vor der WM predigt die Opposition, dass die Brasilianer „einen Wandel“ | |
wünschen. Der wichtigste Oppositionskandidat, Aécio Neves von der PSDB, | |
twitterte denn auch gleich: „Nicht nur die Nationalmannschaft, auch | |
Brasilien muss erneuert werden.“ Deutlicher wurde sein Parteikollege Xico | |
Grazoano. Natürlich seien der Trainer und die Spieler schuld. „Aber auch | |
Rousseff und [Expräsident] Lula sind am Ende.“ | |
Der Diskurs ist einfach. Wandel ist notwendig, weil die Protestwelle des | |
vergangenen Jahres dies wollte, weil die Inflation zu hoch ist und weil das | |
Wirtschaftswachstum stockt. Nur wird nicht gesagt, in welche Richtung der | |
angebliche Wandel gehen soll. Es geht dabei vor allem um Stimmungsmache, | |
denn inhaltlich kann Rousseff schnell Paroli bieten. Die PSDB regierte vor | |
der PT und steht für eine konservative Wirtschaftspolitik und wenig | |
sozialen Ausgleich. Hierbei haben Lula wie Rousseff einiges vorzuweisen. | |
Inhaltlich gefährlich ist für die Regierung eher die Bewegung, die auf der | |
Straße nicht pauschal „gegen Korruption“ protestierte, sondern bessere | |
öffentliche Dienstleistungen und vernünftige Stadtplanung forderte. Doch | |
diese Bewegung hat keinen Kandidaten, der bei der bevorstehenden Wahl | |
Aussicht auf Erfolg hat. | |
## Weder Siege noch Niederlagen helfen | |
Zudem ist es ein riskantes Unterfangen, mit Fußball oder dem Frust nach der | |
dramatischen Niederlage Politik zu machen. Kronzeuge der medialen Klage | |
über die Unfähigkeit der Regierung ist das Publikum, das Rousseff, aber | |
auch die eigene Mannschaft und sogar die chilenische Nationalhymne | |
niedergepfiffen hat. | |
Diese Zuschauer haben sich in den Augen vieler längst diskreditiert – alle | |
haben am Fernseher gesehen, dass es sich dabei um privilegierte | |
Mittelschichtler handelt, die, statt ihre Mannschaft anzufeuern, lieber | |
Selfies schießen. Das Publikum ist eines der Symbole dafür, dass die | |
meisten Brasilianer sich von dieser WM ausgeschlossen fühlten. | |
Seit Langem finden die Wahlen in Brasilien unmittelbar nach der WM statt, | |
und die Erfahrung zeigt, dass Siege nicht den Amtsinhabern helfen und | |
Niederlagen nicht der Opposition, zumindest nicht wesentlich. Nach Meinung | |
des Politikwissenschaftlers Fernando Azevedo wird es auch diesmal so sein: | |
„Brasilien als Weltmeister hätte Rousseff nicht geholfen, wie auch diese | |
Niederlage nicht der Opposition helfen wird. Die Dinge werden nicht | |
durcheinandergebracht.“ | |
10 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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