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# taz.de -- Elektromusik aus Schottland: Zunehmend unscharf
> Mit seinem neuen Album „Green Language“ liefert der eher schweigsame
> Produzent Rustie elektronische Tanzmusik im Breitwandformat.
Bild: Rustie spricht nicht gern über Musik, er hört sie lieber.
Künstler sind oft introvertiert, eigenwillig und verschlossen. Beste
Voraussetzungen für die Entstehung interessanter Musik, schlechte
Voraussetzungen für einen Autor, der versucht, ihrer Musik ein Subjekt an
die Seite zu stellen. Dabei ist Musik doch ein „Seismogramm der Realität“,
wie Theodor W. Adorno einst schrieb – und damit postulierte, dass sie stets
in die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden ist.
Nur interessiert diese Tatsache die Künstler nicht, schon gar nicht den
schottischen Post-Dubstep-Produzenten Rustie. Sprechen wir also erst mal
über sein grundsätzliches Problem. „Interviews mag ich wirklich nicht.
Generell finde ich es ziemlich merkwürdig, über Musik zu reden, ich höre
sie mir lieber an“, sagt Russell Whyte gelangweilt, aber höflich am
Telefon, mit dem er aus seiner Heimatstadt Glasgow zugeschaltet ist.
Seine kompakten Antworten stehen im Kontrast zu seiner Klangsignatur. Denn
im Gegensatz zum düsteren, introvertierten Sound seiner musikalischen
Wurzeln, dem britischen Dubstep der frühen Nullerjahre, erzeugt Rustie
bunte, überdrehte Parallelwelten aus epischen Melodien, psychedelischen
HipHop-Beats und synästhetischer Überwältigung.
Dass die Musik des Schotten auf dem britischen Label Warp erscheint, das
mit Aphex Twin, Flying Lotus oder Boards of Canada bereits einige der
wichtigsten charismatischsten Künstlerfiguren der zeitgenössischen
elektronischen Popmusik zu verdientem Ruhm verholfen hat, beweist einmal
mehr das Gespür der Labelmacher für eigenwillige Typen. Denn Rusties Musik
kündigte nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in der Clubmusik an,
weg von der Reduktion, hin zur maximalen Überladung, weg von erhabener
Düsterheit hin zur anarchischen Euphorie.
Am vollkommensten repräsentiert das Rusties 2013 veröffentlichter Track
„Triadzz“. Der französische Philosoph Lyotard hätte ihn als perfektes
akustisches Beispiel für das postmoderne Zeitalter ausrufen können, das er
einst so bezeichnete. Dies zeichnete sich auf kultureller Ebene weniger
durch die Erschaffung von Neuen als durch die geschickte Rekombination
vorhandener Ideen aus, schrieb Lyotard. Genauso klingt Rustie.
Seine Tracks stießen bald unter den üblichen Elektroniknerds auf breite
Resonanz, in Japan und den USA sind sie massenwirksam. Das beweisen nicht
nur die 63.718 Likes auf Rusties Facebook-Seite. Erst vor einer Woche
kehrte Whyte von einer ausgedehnten US-Tour zurück. „Fast jedes Konzert war
ausverkauft, es war wirklich toll“, sagt er nüchtern. Danach Schweigen.
## Natur und Synthetik
Ein guter Zeitpunkt, über sein neues Album zu sprechen, das immerhin „Green
Language“ heißt. Wie der Vorgänger, Rusties Debütalbum „Glass Swords“ …
2011, ist auch sein zweites Werk ein musikalisches Kaleidoskop. Eines, in
dem verspulte Synthie-Melodien und markerschütternde Subbässe genauso Platz
finden wie hochgepitchter Frauengesang aus der glückseligen Rave-Ära,
Trap-Beats, Funk aus den Achtzigern oder der sonische Maximalismus von
Progrock-Bands wie Pink Floyd.
Neben den für Rustie üblichen Markenzeichen, wie den ausufernden,
hyperkünstlichen Sounds sind diesmal auch viele „reale“ Klänge zu hören,
wie etwa im epischen „Paradise Stone“, in dem eine warme Kalimba-Melodie
mit kitschigen Synthies und polyrhythmischen Hihats kurzgeschlossen wird.
Die Parallelisierung von Natur und Synthetik ist ein Leitmotiv des Albums,
dessen Titel auf eine alte mystische Bezeichnung für eine Natursprache
verweist, wie Whyte erklärt. „Es ist eine Sprache, die schon existierte,
bevor es uns Menschen gab. Das kann Vogelgesang sein, aber auch die Art,
wie Pflanzen miteinander kommunizieren.“
Dass Musik Whyte zufolge keine Sprache ist, sondern weit über sie
hinausgeht, verwundert jetzt auch nicht mehr. „Musik ist etwas, für das man
erst mal gar keinen Verstand benötigt, denn sie wirkt ganz unmittelbar,
sowohl auf emotionaler als auch körperlicher Ebene“, sagt der Schotte, der
nun doch nicht mehr geizig mit Worten ist.
Musik als den Körper affizierende Materialität, das ist von jeher die
Essenz von Clubkultur. Wie für viele Bewohner des Vereinigten Königreichs
ist auch Rusties Biografie eng mit ihr verbunden. In Glasgow, wo er
aufwuchs und bis heute lebt, kam er schon sehr früh mit Clubmusik in
Berührung. Mit 15 schlich er sich zusammen mit seinem älteren Bruder in die
Clubs, um unter dem Einfluss von Ecstasy, wie er mit einem kurzen
Aufblitzen von Enthusiasmus erzählt, zu Trance oder Hardtechno zu tanzen.
Dass er damals gefälschte Ausweise benutzte, um in den Club zu gelangen,
geschenkt.
In Großbritannien spielten Clubs immer schon eine wichtigere Rolle in der
Jugendkultur als hierzulande. Womöglich auch, weil die Flucht vor dem
Alltag wesentlich drängender ist in einem Land mit einer deregulierten
Volkswirtschaft weitgehend ohne ausreichende soziale Sicherungssysteme.
## Die zweite Generation
Bis Rustie begann, selbst elektronische Musik zu produzieren, dauerte es
noch. Erst mit Anfang 20, als er intensiv die Musik des Detroiter
Techno-Labels Underground Resistance sowie den R&B von Timbaland und den
Grime des britischen Rappers Dizzee Rascal studierte, bastelte er an
eigenen Tracks. Das war zu der Zeit, als mit Dubstep in London gerade der
einflussreichste Musikstil der nuller Jahre entstand.
Ein Stil, an dessen Offenheit Rustie gut andocken konnte. So reihte er sich
mit der Veröffentlichung seines Debüttracks „Jagz the Smack“ 2007 umgehend
in die zweite Generation von Dubstep ein. In dessen Windschatten
entwickelten sich unzählige neue Interpretationen.
Die Gemeinsamkeit all der Künstler – ob Mount Kimbie mit ihrem
Indierock-Ansatz oder Cooly G mit ihrem Hang zu 80s-Sounds – lag in der
Lust am Experiment. Es ging vor allem um die Dekonstruktion einer
althergebrachten Ästhetik, aber auch um die Verschmelzung von alten
Stilmerkmalen wie die tiefen, rollenden Bässe von Jungle mit aktuellen
Einflüssen aus der Soul- oder HipHop-Ecke.
Zusammen mit Zomby, Flying Lotus und dem Glasgower Kollegen Hudson Mohawke
wurde Rustie so zum Aushängeschild für einen Stil zwischen HipHop, Dubstep
und House, den findige britische Journalisten „Wonky“ tauften.
Der Begriff, der so viel wie „nicht ganz in Ordnung“ bedeutet, verweist auf
die Ästhetik der Ungenauigkeit, die sich nicht nur in der Verweigerung
rhythmischer Konventionen durch die Verwendung von Triolen äußert, die für
elektronische Tanzmusik ein bis dato sehr ungewöhnliches Metrum waren. Wie
in der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts, bei der die Bilder zunehmend
unscharf und in naturalistische Figuration aufgelöst wurden, verzerrten
diese Künstler ihre Klänge bis ins Groteske.
Neben den Beats, die stets ungenauer waren, als es sich ein Schlagzeuger
erlauben könnte, brachten die Tracks alles zum Einsturz, was für Techno,
House und selbst Dubstep immer heilig war, nämlich Präzision,
Taktgenauigkeit und eine klangliche Zurückhaltung zur Wahrung der
Tanzbarkeit. Bis heute hat sich Rustie seinen Hang zur Psychedelik bewahrt.
Deshalb besteht für ihn auch kein Widerspruch im Artifiziellen seiner Musik
und dem auf die Natur verweisenden Albumtitel. Denn der psychedelische
Aspekt passe gut zu den Erfahrungen, die man in der Natur machen könne.
In der Natur zu komponieren käme für den Schotten jedoch nicht infrage,
obwohl ihm der Ort eigentlich egal ist. Viel wichtiger ist Rustie die
Tageszeit. Er produziert am liebsten nachts, wenn er ein paar Joints und
Bier intus hat, wie er sagt. Denn, so sein Schlusssatz, wenn er sich beim
Produzieren nicht amüsieren könne, „würde er keine Musik mehr machen“.
21 Aug 2014
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
elektronische Musik
Popmusik
Schottland
Neues Album
Schwerpunkt Atomkraft
Pop
House
Kalifornien
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