| # taz.de -- Debatte Rüstung: Neue Feinde, neue Opfer | |
| > Kriege zu führen, indem man andere bewaffnet, ist vor allem heuchlerisch. | |
| > Was kurzfristig funktionieren soll, geht mittelfristig meistens schief. | |
| Bild: Militärlieferung am Flughafen Leipzig. | |
| Vergangene Woche habe ich ein Radio-Interview mit dem Krimiautor Oliver | |
| Bottini gehört, der folgende Zahlen genannt hat: Deutschlandweit sind knapp | |
| 100.000 Menschen direkt in der Rüstungsindustrie beschäftigt; zum | |
| Bruttoinlandsprodukt trägt sie 1,5 Prozent bei. Der Rüstungsexport hatte | |
| 2011 am deutschen Gesamtexport einen Anteil von 0,12 Prozent. – Nur | |
| Hunderttausend? Nullkommazwölf? Das sind ja nun wahrlich keine | |
| einschüchternd großen Zahlen. Warum also versuchen wir Rüstungsexporten, | |
| diesem Emblem des industrialisierten Bösen, nicht längst gesetzlich Einhalt | |
| zu gebieten? | |
| Als Gründe nennt Bottini nennt geschickten Lobbyismus und Bestechungen. Ein | |
| dritter Grund ist sicher, dass Rüstungsexporte eine geopolitische Option | |
| sind, bei der man nicht selbst in den Krieg ziehen muss. Bekanntlich sind | |
| Waffenexporte essentieller Teil der Außenpolitik technologisch | |
| fortgeschrittener Staaten, wir vergeben Waffen an einige, damit diese gegen | |
| andere kämpfen. Die alte römische Maxime „Teile und Herrsche!“ hat sich | |
| längst in ein „Bewaffne und Herrsche!“ transformiert. | |
| Nicht neu, aber immer wieder überraschend dann die Erkenntnis: Was | |
| kurzfristig funktionieren konnte, geht mittelfristig meistens schief. | |
| Unsere Freunde von gestern entpuppen sich plötzlich doch als gar nicht so | |
| unheimlich freundlich, oder sie wagen es, eigene Interessen zu verfolgen | |
| und nicht nur die unseren. Weitere Gruppierungen benötigen Waffen, um | |
| unsere früheren Freunde in Schach zu halten. Gelegentlich wünscht man sich | |
| eine Version von google-maps, die sämtliche jemals von den westlichen | |
| Industriestaaten hergestellten Waffen anzeigen würde... Wenn | |
| google-weapon-maps sogar zeigen könnte, zu welcher Zeit die Waffen | |
| hergestellt wurden, ließe sich die Geschichte sämtlicher Konflikte seit der | |
| ersten Kalaschnikow zurückverfolgen: wann wer mit wem gegen wen verbündet | |
| war; wie sich das änderte; und wie sich die Waffen, an einstige Freunde | |
| geliefert, diffusionsartig in der ganzen Welt verbreiten. | |
| Dieser noch leicht zu habenden Einsicht, dass die Geopolitik vergangener | |
| Zeiten auf jeweils wenig tragfähigen Trennungen in Freund und Feind | |
| beruhte, folgt allerdings ein schmerzhafter Schluss: dass unsere heutigen | |
| Einteilungen vermutlich ebenso ideologisch begründet, kurzsichtig und | |
| irreführend sind. Meist sprechen wir ja nicht von Freunden und Feinden, | |
| sondern wir erleben die eine Seite als willkürlich, grausam und religiös | |
| verbohrt; die andere Seite ist Opfer der ersteren. Daraufhin adeln wir sie | |
| zu „den Guten“, und die Angreifer sind „die Bösen“. | |
| ## Mythos Kämpferin | |
| Als ich Teenager war, während des Iran-Irak-Kriegs, „lernte“ ich aus dem | |
| Fernsehen, dass Schiiten die bösen Muslime waren und Sunniten die guten. | |
| Heute sind irakische Schiiten Freunde, die gegen Sunniten beschützt werden | |
| müssen. Ich wette, dass 99 Prozent der Deutschen nichts über die religiösen | |
| Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten wissen – Hauptsache, wir werden | |
| immer auf den neusten Stand gebracht, zu wem wir halten sollen. | |
| Ähnliches gilt vermutlich für die Jesiden. Ich jedenfalls musste bei | |
| Wikipedia nachschauen, wo in der Welt Jesiden leben und woran sie glauben; | |
| aber als sie vom Islamischen Staat (IS) gemetzelt, vergewaltigt und | |
| versklavt wurden, avancierten sie zum Inbegriff der unschuldigen | |
| Schutzlosen, vielleicht auch, weil sie ein wenig nach Jesus klingen. | |
| Als Retter der Jesiden stehen bei uns hoch im Kurs die Kurden – zumindest | |
| diejenigen, die sich die „Peschmerga“ nennen. Obwohl es tatsächlich PKKler | |
| waren, die die Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge retteten. Doch während die | |
| PKK in Deutschland nach wie vor als Terrororganisation gilt (und erst im | |
| April 2013 zum letzten Mal auf deutschem Boden Geiseln nahm), sind die | |
| Peschmerga derzeit die Helden. | |
| Kürzlich wurde berichtet, dass in ihren Reihen auch Frauen kämpfen. Dass | |
| dies phänomenal und modern schien, ist ein Effekt des von Edward Said | |
| beschriebenen „Orientalismus“. Niemand ist in Deutschland vor Freude aus | |
| den Latschen gekippt, als die Bundeswehr Frauen zuließ, also wieso sollte | |
| es toll sein, wenn kurdische Frauen kämpfen? Das Bild der kämpfenden, | |
| freien Orientalin ist geeignet, die eine Seite zu heroisieren… Übrigens | |
| kämpften bei der ungeliebten PKK schon in früheren Jahren Frauen, und auch | |
| bei IS gibt es Frauen-Brigaden. | |
| ## Pazifismus ist nicht lächerlich | |
| Selbstverständlich ist nicht daran zu zweifeln, dass die Jesiden (und | |
| andere) im Nordirak auf das Schlimmste gefährdet sind; angesichts ihrer | |
| Lage wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich keine Pazifistin bin – doch | |
| dazu gleich noch. Nur müssen wir uns hüten, mit einem von Unwissen und | |
| ideologischem Überschwang gesteuerten Stift gleich wieder Grenzen zwischen | |
| „gehört zu uns“ versus „ist gegen uns“ zu ziehen. | |
| Wir sollten mehr ideologische Abstinenz üben, um unsere jetzige | |
| Verantwortung realistisch zu erwägen. Neben den Waffenlieferungen gibt es | |
| noch zwei Optionen: Krieg führen. Oder Frieden. Niemand möchte Krieg | |
| führen, aber es ist zu befürchten, dass ein alleiniges Beschwören von | |
| Frieden denjenigen, die jetzt vor IS auf der Flucht sind, nicht helfen | |
| wird. Das ist kein Grund, sich über den Pazifismus lustig zu machen: Immer | |
| wieder haben Pazifisten dazu inspiriert, nach anderen Lösungen zu suchen | |
| als denen, die zwangsläufig schienen. Vermutlich wären wir heute gar nicht | |
| in der Situation, uns zu den Mördern im Nord-Irak verhalten zu müssen, wenn | |
| wir in früheren Jahrzehnten mehr auf Frieden und weniger auf Waffenverkäufe | |
| gesetzt hätten. | |
| Pazifismus ist eine wichtige Alternative zu der Auffassung, Gewalt könne | |
| „alternativlos“ sein. Dennoch ist in manchen Situationen Gewalt wohl nicht | |
| die einzige, aber doch die bessere Möglichkeit des Handelns. Nur eins ist | |
| wirklich keine Alternative: Kriege zu führen, indem man einem anderen | |
| Waffen in die Hand drückt und ihn in den Kampf schickt, ist nicht | |
| friedlicher, als wenn man selber tötet. Es ist heuchlerisch. | |
| 12 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilal Sezgin | |
| ## TAGS | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Waffenlieferung | |
| Irak | |
| Kurden | |
| Militär | |
| Sigmar Gabriel | |
| Rüstungsindustrie | |
| Waffenexporte | |
| Irak | |
| Bundeswehr | |
| Jesiden | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| USA | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommentar Rüstungsexportbericht: Kleine Schritte, unklare Richtung | |
| Sigmar Gabriel hat die Moral in die Debatte um die deutschen | |
| Rüstungsexporte geholt. Tatsächlich merkt man noch nicht viel davon. | |
| Kommentar Rüstungspolitik: Effizienz sticht Verantwortung | |
| Die Verteidigungsministerin fordert neue Rüstungsgüter. Will die SPD das | |
| verhindern, steckt sie in einem Dilemma, denn es geht auch um | |
| Arbeitsplätze. | |
| Regierung genehmigt Exporte: Panzer für Katar | |
| Der Bundessicherheitsrat genehmigt zahlreiche Rüstungsexporte nach | |
| Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien. Die Opposition kritisiert die | |
| Regierung. | |
| Ausbilder der Bundeswehr sitzen fest: Irak verweigert Einreise | |
| Sechs Fallschirmjäger der Bundeswehr dürfen nicht in den Irak einreisen. | |
| Sie sollten dort kurdische Peschmerga für den Kampf gegen die IS ausbilden. | |
| Rüstungshilfe für kurdische Kämpfer: Peschmerga nach Hammelburg | |
| Die kurdischen Kämpfer sollen nicht nur Waffen von Deutschland geliefert | |
| bekommen. Die Bundeswehr wird einige hierzlande auch in die Bedienung | |
| einweisen. | |
| Jesiden in Deutschland: Das Trauma der Vorfahren | |
| 100.000 Jesiden leben in Deutschland. Auf den IS-Terror „war niemand | |
| vorbereitet“, sagt Yunus Cengiz. Ein Besuch in einer jesidischen Gemeinde. | |
| Kommentar Bekämpfung des IS: Handeln müssen die Nachbarn | |
| Der IS konnte nur in den zerfallenen, kriegsgeplagten Staaten Irak und | |
| Syrien entstehen. Genau dort muss auch die Problemlösung ansetzen. | |
| US-Strategie im Nahen Osten: Neuer Krieg gegen den Terror | |
| Präsident Obama will die Milizen des „Islamischen Staats“ im Irak und in | |
| Syrien bekämpfen. Mit einem Dreistufenplan und ohne Bodentruppen, sagt er. |