# taz.de -- Digitalrevoluzzer in Neuseeland: Die Pfunde der Wahrheit | |
> Snowden, Assange, Kim Dotcom: Eine Armada von Revoluzzern macht in | |
> Neuseeland Wahlkampf. Es ist wie ein Zungenkuss mit Zahnspange. | |
Bild: Stell Dir vor: Jetzt noch Zahnspange – und dann schlecken! | |
Wenn ich als Zwölfjähriger mit meinen Pubertierfreundinnen „Wahl, Wahrheit | |
oder Pflicht“ gespielt habe, entschied ich mich stets für die Wahrheit. Wir | |
saßen dann, als der Engtanz vorbei war, in klammnassen Iglu-Zelten, deren | |
Innenwände von unserer aufgeregten Atmung beschlagen waren, und hatten | |
stets die eine Möglichkeit vor Augen: Dass die Stunde der Wahrheit zum | |
Greifen nah war – ein Zungenkuss, entweder mit Julia oder mit Florian, in | |
jedem Fall aber mit Zahnspange, unverlässlichen Augenzeugen und allem, was | |
bestenfalls in der Vorstellung schön war. | |
Nein, ich wollte mich zu nichts verpflichten, ich wollte keine Wahl haben. | |
Wieso bloß muss mir die Erinnerung daran nun wieder kommen? Das damals | |
hatte doch nun wirklich nichts mit dicken Männern, dicken Eiern oder auch | |
nur Neuseeland zu tun. Und dennoch. | |
Es gibt einen Inselstaat auf der Welt namens Neuseeland und einen großen | |
kartoffelförmigen Mann, an dem Neuseeland offenbar seit längerem leidet. | |
Sein Name ist Kim Schmitz, sein Kunstname Kim Dotcom. Manche nennen ihn | |
einen „Internetmillionär“ und weil er früher mal ein megamäßiges | |
Upload-Portal („Megaupload“) betrieben hat, suchen ihn das FBI und einige | |
andere wegen größerer ungeklärter Urheberrechtsfragen noch heute. | |
Am Montag rief Kim Dotcom zu [1][seiner ganz persönlichen „Stunde der | |
Wahrheit“]. Es hätte ein Weltereignis werden können, mit Brisanz und | |
Appeal. Aber es hatte höchstens den Charme eines Zungenkusses. Eines viel | |
zu frühen Zungenkusses. Mit Zahnspange und so. | |
## Der Beweis der Überwachung | |
Dazu ist zu wissen: In Neuseeland sind am Samstag Wahlen und obwohl ich | |
noch nie in Neuseeland war, weiß ich, [2][dass da gerade alle völlig aus | |
dem Häuschen sind]. Denn kürzlich hat ein Buchautor enthüllt, wie die | |
Regierung des konservativen Ministerpräsidenten John Key, den eigentlich | |
viele Wähler dort mochten, über Jahre hinfort mit miesen Tricks die | |
Opposition attackiert hat. | |
Das ging angeblich so: Regierungsmitglieder gaben einem befreundeten | |
Blogger persönliche Details über Sozialdemokraten – und der machte sich | |
dann über die politischen Gegner her. Seit das bekannt wurde, steht John | |
Key nun gehörig in der Pflicht – er soll endlich die Wahrheit sagen, denn | |
am Samstag ist ja schon Wahl. Das war das eine. Aber dann kamen noch all | |
die anderen. | |
Am Montag nun rückten die vermutlich mächtigsten Digitalrevoluzzer der Welt | |
kollektiv zusammen, um dem angeschlagenen Ministerpräsidenten einen | |
weiteren Haken zu verpassen. Es war eine Show, die aus Auckland in die | |
ganze Welt gesendet wurde - und die Helden dieser Show hießen Glenn | |
Greenwald, Edward Snowden und Julian Assange. | |
Vordergründig ging es darum zu „beweisen“, dass Neuseeland im Verbund mit | |
den USA, Großbritannien und anderen Staaten auch in Neuseeland selbst die | |
Welt sowie die eigene Bevölkerung überwachen kann. Das hatte Key bislang | |
immer bestritten. Und genauso war es auch aufgemacht: Internetmillionär Kim | |
Dotcom, der für seinen pompösen Lebensstil bekannt ist und wie zum Hobby | |
neulich eine Internetpartei gegründet hat, hatte eingeladen. | |
## Eine pompöse Show | |
Es gab eine riesige Bühne, mächtige Slogans und einen stabilen Livestream – | |
und dann tanzten die ganzen gut gelaunten Internethelden, die ja mit | |
pompösen Shows inzwischen Erfahrung haben, wie in einer Quiz-Show an, um | |
den Ministerpräsidenten herauszufordern. | |
In Neuseeland war das natürlich ein Riesending, denn: Weil es ja nicht mehr | |
lang hin ist bis zu den Wahlen am Samstag, hat der Ministerpräsident, | |
nervös genug, eigens einen kleinen Ausraster bekommen und Glenn Greenwald | |
einen „Handlanger“ genannt, der „nicht die Eier“ gehabt habe, seine Kri… | |
ein paar Wochen früher, also vor dem Wahlkampf, vorzutragen. Und dann | |
ereiferte sich Greenwald, der Snowden-Enthüller, zurück und es begann ein | |
lächerliches hin und her. | |
Das war sie also, Kims „Stunde der Wahrheit“. Es gab, natürlich, auch ein | |
paar inhaltliche Ansagen - von wegen „Es stimmt aber, dass auch in | |
Neuseeland die Leute überwacht werden“ –, aber ansonsten gab es vor allem | |
Typen mit Aufmerksamkeitsbedürfnis, die wohl kaum Neuseeländer waren, aber | |
voll auf Besserwisser machten. | |
Und obwohl ich Internetrevoluzzer wichtig finde und mir das doch alles | |
recht zugetan anschauen wollte, also im Livestream und nicht in Neuseeland, | |
waren plötzlich Julia, Florian und die Zahnspangen wieder voll in meinem | |
Bewusstsein: All dieses Sechsteklassegehabe, als man womöglich mit anderen | |
Jungs darum stritt, wer in Fantasie mit welchem Mädchen gehen dürfte. | |
Wir trauten uns damals nicht, den Mädchen die Wahl zu lassen und so fragten | |
wir sie gar nicht erst. Aber in Neuseeland haben ja am kommenden Samstag | |
alle die Wahl. Und wenn ich am Samstag ein Neuseeländer wäre, dann wählte | |
ich erstens irgendwas und zweitens wieder die Wahrheit. Und die Wahrheit | |
ist: So, Edward, Julian und Glenn, macht man keine Politik. So macht man | |
sich lächerlich. | |
15 Sep 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://youtu.be/Pbps1EwAW-0 | |
[2] /!145909 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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