| # taz.de -- „The Cut“ von Fatih Akin: An der Filmgeschichte verhoben | |
| > Regisseur Fatih Akin hat mit „The Cut“ einen Film über das türkische | |
| > Massaker an den Armeniern von 1915 gedreht. Sein Held bleibt stumm. | |
| Bild: Der schwerverletzte Nazaret (Tahar Rahim). | |
| Der kleine Junge weint und schreit, verzweifelt streckt das Kind seinem | |
| Vater die Hände entgegen. Der wehrt sich mit Händen und Füßen gegen zwei | |
| Männer, die ihn mit Gewalt zurückzuhalten versuchen. Hilflos muss er mit | |
| ansehen, wie der Junge auf einen Transporter verladen wird. | |
| Eine rührende Szene und der dramatische Höhepunkt von Charlie Chaplins | |
| Tragikomödie „Der Vagabund und das Kind“. Ein anderer Mann sieht diese | |
| Szene in Fatih Akins Historiendrama „The Cut“, sein Name ist Nazaret und er | |
| hat eine ähnliche Geschichte erlebt wie Chaplins Tramp. Als der Junge im | |
| Film von seinem (Adoptiv-) Vater weggezerrt wird, kommt die traumatische | |
| Erinnerung wieder in ihm hoch und Tränen rinnen über sein Gesicht. | |
| Die Kinosequenz reiht sich in „The Cut“ eher beiläufig in eine relativ | |
| willkürlich anmutende Abfolge von mal mehr, mal weniger dramatischen Szenen | |
| ein. Dennoch kann man sie als symptomatisch für Akins Film sehen, der | |
| bereits im Vorfeld der Filmfestspiele von Cannes (wo er als offizieller | |
| Wettbewerbsbeitrag abgelehnt wurde) Spekulationen auslöste und unter | |
| Kritikern für Stirnrunzeln sorgt. | |
| Das Problem der Stummheit ist dabei nur das offensichtlichste. Chaplin | |
| musste es 1921 noch nicht beschäftigen. Auch Akins Held, gespielt vom | |
| Franzosen Tahar Rahim, ist stumm, seine Sprachlosigkeit geht zurück auf | |
| eine traumatische Erfahrung, die sich im Kinobild – das eine muslimische | |
| Frau im Vorübergehen als „Teufelswerk“ bezeichnet – gewissermaßen doppe… | |
| ## Die Stimmbänder durchgeschnitten | |
| Bei einer Massenexekution durch türkische Soldaten wurden Nazaret die | |
| Stimmbänder durchgeschnitten, die letzte Gnade eines türkischen Soldaten, | |
| der ihn nach dem Massaker leblos zwischen den Leichen der getöteten | |
| Kameraden zurücklässt. Seine Frau und seine Zwillingstöchter, so wird | |
| Nazaret später erfahren, seien bei den Massendeportationen durch die Armee | |
| ums Leben gekommen. | |
| Der Verlust des Kindes ist in „The Cut“ ein Bild von hohem Symbolwert, es | |
| steht stellvertretend für die systematische Ermordung von geschätzten 1,5 | |
| Millionen Armeniern im Jahr 1915 – ein dunkles, noch immer | |
| unaufgearbeitetes Kapitel in der türkischen Geschichte. Akin, der als | |
| deutscher Regisseur mit türkischen Wurzeln sein persönliches Interesse an | |
| der Thematik immer wieder betont hat, nimmt sich eines historischen Stoffes | |
| an, der auch im Kino bislang wenig Resonanz gefunden hat. | |
| Der armenisch-kanadische Regisseur Atom Egoyan hat vor über zehn Jahren mit | |
| „Ararat“ einen unnötig komplizierten, aber nicht uninteressanten Versuch | |
| unternommen, die Auswirkungen des Genozids an der armenischen | |
| Zivilbevölkerung anhand mehrerer Generationen bis in die Gegenwart hinein | |
| zu beschreiben. Akins Ansatz ist wesentlich zugängiger, bringt jedoch ganz | |
| andere Probleme mit sich. | |
| Mit seinen majestätischen Landschaftstotalen und einer episch ausufernden | |
| Geschichte, die Nazaret auf der Suche nach seinen überlebenden Töchtern | |
| über den Libanon und Kuba bis in die USA führt, erinnert „The Cut“ vor | |
| allem an die Breitwand-Melodramen eines David Lean. Der getragene, | |
| altmodische Erzählmodus von Drehbuchautor Mardik Martin, selbst gebürtiger | |
| Armenier und ein langjähriger Weggefährte Martin Scorseses, läuft Akins | |
| selbst erklärter „Mission“, die Massaker an der armenischen Bevölkerung | |
| aufzuarbeiten, strikt zuwider. | |
| ## Reduktion auf die Odyssee eines Familienvaters | |
| „The Cut“ reduziert die Spurensuche einer armenischen Diaspora auf die | |
| Odyssee eines Familienvaters, die nur gelegentlich in emblematischen | |
| Einstellungen eine vage Ahnung von Verlust und traumatischer Erfahrung | |
| vermittelt. | |
| Bezeichnenderweise gehören gerade diese Szenen zu den Schwachstellen des | |
| Films, weil Akin sich immer doppelt versichern muss. Während des | |
| Chaplin-Films ist es ein Schnitt auf Rahims Tränen, in einer weiteren | |
| Schlüsselszene, in der Nazaret in einem Brunnen ein Massengrab entdeckt und | |
| damit das Ausmaß der Pogrome realisiert, schwillt die Tonspur kakofonisch | |
| an. | |
| Solche Stilmittel reduzieren die Bilder zu bloßen Indizienbeweisen für den | |
| mentalen Zustand eines Menschen, der seine Sprache verloren, aber noch | |
| keine Möglichkeit gefunden hat, seinen Gefühlen auf andere Weise Ausdruck | |
| zu verleihen. Im Genre des Melodrams, das von der bedingungslosen | |
| Identifikation des Publikums mit den Figuren lebt, hat ein Film, der nicht | |
| einmal seinen eigenen Bildern Vertrauen schenkt, denkbar schlechte Karten. | |
| So lässt „The Cut“ einen eher ratlos als verärgert (über eine Vielzahl v… | |
| dubiosen dramaturgischen Entscheidungen) zurück. Die Tatsache, dass die | |
| armenischen Charaktere als einzige Ethnie im Film statt in ihrer | |
| Muttersprache in einem schlechten Englisch reden müssen, stieß schon in der | |
| internationalen Presse zurecht auf Kritik. Die Frage, was ein Film über die | |
| armenische Kultur erzählen möchte, der seinen Protagonisten nicht einmal | |
| ihre eigene Sprache lässt, muss Akin sich gefallen lassen. | |
| ## Ein Film ohne jede politische Brisanz | |
| „The Cut“ leidet unter solchen Konzessionen – zwangsläufig eine Konseque… | |
| von Akins Anspruch, ein politisches Thema für ein Massenpublikum | |
| aufzuarbeiten. Was unter dem Strich bleibt, ist ein Film ohne jede | |
| politische Brisanz, aber auch ohne dramatische Finesse. Die zweite Hälfte | |
| des Films zieht sich ereignislos dahin, handelt Station um Station ab. | |
| Vor allem irritiert an „The Cut“ der ästhetische Rückgriff auf eine Form | |
| von heute historischem Erzählkino. Akin ist bereits der zweite deutsche | |
| Regisseur, der eine Art von „Aufarbeitungsgeschichte“ unter den Bedingungen | |
| des Genrekinos zu erzählen versucht. In Christian Petzolds „Phoenix“ werden | |
| der Film Noir und Fassbinders Wirtschaftswunder-Trilogie noch einmal für | |
| eine reichlich fragwürdige – und letztlich unergiebige – Auseinandersetzung | |
| mit einer moralischen Schuld nachgestellt. Akin kann man nicht einmal so | |
| viel Konzept unterstellen. Mit „The Cut“ hat er sich einfach nur gewaltig | |
| an der Filmgeschichte verhoben. | |
| 15 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Busche | |
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