| # taz.de -- Fatih Akins „The Cut“ in der Türkei: Eine Kultur der Angst | |
| > Den Völkermord an den Armeniern zu thematisieren, wäre in der Türkei noch | |
| > vor ein paar Jahren undenkbar gewesen. Heute gibt es andere Tabus. | |
| Bild: Vieles darf man inzwischen sagen, aber nicht alles | |
| ISTANBUL taz | Als der Abspann auf der Leinwand erscheint, herrscht | |
| andächtiges Schweigen im Kino. Kaum jemand steht auf, im Saal bleibt es | |
| stumm bis die letzte Zeile erlischt und das Licht angeht. Vielen Leuten ist | |
| ihre Betroffenheit anzusehen. „The Cut“ der Film des deutsch-türkischen | |
| Regisseurs Fatih Akin trifft in Istanbul und anderen Großstädten der Türkei | |
| auf ein anderes Publikum als in Deutschland oder Amerika. Es ist das erste | |
| Mal, dass ein türkischstämmiger Filmemacher den Völkermord an den | |
| osmanischen Armeniern von 1915 auf die Leinwand bringt. | |
| Seit letzten Freitag läuft „The Cut“ unter großer öffentlicher Beachtung… | |
| der Türkei. Als der Film das erste Mal auf dem Festival in Venedig gezeigt | |
| wurde, hatte Fatih Akin noch Sorge, ob der Film wohl in der Türkei gezeigt | |
| werden könne. Tatsächlich gab es dann auch gleich Ankündigungen türkischer | |
| Ultranationalisten, man werde verhindern, dass der Film in Istanbul in die | |
| Kinos kommt. | |
| Gemessen an den Befürchtungen Fatih Akins und den großmäuligen | |
| Ankündigungen der Neofaschisten läuft es jetzt rund um den Film erstaunlich | |
| ruhig, ja geradezu erfreulich normal. Er wird in den großen | |
| Mainstream-Kinocentern gezeigt. Der Besuch ist gut, wenn auch nicht | |
| überwältigend und der Film wird in den Zeitungen besprochen, wie die | |
| anderen Fatih Akin Filme zuvor. Die Rezensenten sind wohlwollend kritisch, | |
| die cineastische Qualität wird diskutiert, aber nirgendwo taucht der | |
| jahrzehntealte Vorwurf vom Vaterlandsverrat gegenüber jemandem auf, der als | |
| Türke den Völkermord aus Sicht eines Armeniers erzählt. | |
| Für das türkische Publikum ist dieser Film eine Chance die angenommen wird. | |
| Denn auch wenn man unterstellt, dass sich überwiegend Leute den Film | |
| anschauen, die für das Thema bereits sensibilisiert sind, ist es doch immer | |
| noch so, dass man in den türkischen Massenmedien über den Völkermord aus | |
| Sicht der Opfer wenig erfährt. Deshalb die Betroffenheit bei vielen | |
| Besuchern. | |
| ## Ein düsteres Zeugnis | |
| Fatih Akin, der zum Filmstart in der Türkei war und sich in mehreren | |
| Interviews äußerte, sagte gegenüber der Zeitung Zaman, er habe den | |
| Eindruck, die Türkei sei jetzt „bereit für das Thema“. Was noch vor ein | |
| paar Jahren hysterische Reaktionen ausgelöst hätte, könne nun normal | |
| diskutiert werden. Fast schon nebenbei erläutert Fatih Akin in dem | |
| Interview, warum die Ereignisse von 1915 für ihn ein Völkermord waren – vor | |
| ein paar Jahren hätte ihm das noch eine Anklage einbringen können. | |
| So erfreulich die Entwicklung in der Türkei bei der Debatte über die | |
| armenische Frage ist – einer, der die Diskussion über den Völkermord | |
| maßgeblich mit angestossen hatte, der Schriftsteller Orhan Pamuk, stellte | |
| der gesamten kulturellen Entwicklung des Landes am gleichen Wochenende, an | |
| dem Fatih Akins Film in die Kinos kam, dennoch ein düsteres Zeugnis aus. | |
| Pamuk präsentierte am Wochenende seinen neuen Roman, der seit Dienstag in | |
| den Istanbuler Buchläden liegt, der Öffentlichkeit. „Kafamda bir tuhaflik�… | |
| übersetzt „Die Verwirrung in meinem Kopf“, ist ein Buch über eine Familie, | |
| die in den 60er Jahren vom Dorf nach Istanbul zog. Die Geschichte | |
| beschreibt die Entwicklung Istanbuls in den letzten 40 Jahren und | |
| thematisiert dabei auch die veränderte Rolle der Frau. Der | |
| Nobelpreisträger, der seit Jahren zwischen New York und Istanbul pendelt, | |
| zeigte sich in einem Interview, das er der Wochenendausgabe von Hürriyet | |
| gab, entsetzt über die Äußerungen von Präsident Erdogan zur Frauenfrage und | |
| über die Repression, die im Land mittlerweile wieder vorherrscht. | |
| Es sei eine Kultur der Angst, stellte Pamuk fest. „Das schlimmste ist die | |
| Angst. Ich sehe, dass alle Angst haben“, sagte er gegenüber Hürriyet. „Das | |
| ist doch nicht normal. Die Meinungsfreiheit ist auf ein sehr niedriges | |
| Niveau gefallen“. Selbst regierungsnahe Journalisten würden bei der | |
| kleinsten Abweichung gefeuert. „Ich habe dergleichen niemals irgendwo sonst | |
| gesehen“, sagte Pamuk. | |
| Obwohl Fatih Akin die politische und kulturelle Entwicklung der Türkei | |
| grundsätzlich sicher nicht anders beurteilt als Orhan Pamuk, stehen die | |
| beiden dennoch im Moment für ein merkwürdiges Paradox: Während man vor 10 | |
| Jahren auf keinen Fall öffentlich über den Völkermord an den Armeniern | |
| reden durfte, ansonsten aber fast alles andere schreiben oder sagen konnte, | |
| ist es jetzt genau anders herum. Man darf heute zwar den Völkermord | |
| beklagen, wer es aber wagt, Präsident Erdogan oder seine Regierung zu | |
| kritisieren, muss damit rechnen, dass er als Journalist mindestens seinen | |
| Job los ist, wenn nicht gleich eine Gefängnisstrafe droht. | |
| 11 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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