# taz.de -- Filmfestspiele in Venedig: Nacktputzen und Klobrillen auslecken | |
> Ulrich Seidl zeigt in Venedig seinen neuen Film „Im Keller“. Sadomaso auf | |
> Augenhöhe und andere österreichische Kellergeschichten. | |
Bild: Eine besondere Beziehung: Österreicher und ihre Keller – Szenenbild au… | |
Die Tätowierung auf dem Rücken von Alessa Duchek stellt einen Teufel dar. | |
Wo seine Augen sind, glitzern zwei kleine, rote Strasssteine. Duchek gehört | |
zusammen mit ihrem Ehemann Gerald zu den Akteuren in Ulrich Seidls Film „Im | |
Keller“, der außer Konkurrenz läuft, und ihren Rücken wie ihre pinkfarbenen | |
Haare präsentiert sie bei der Premierenparty, die im lauschigen Garten | |
einer Locanda im Stadtteil Dorsoduro stattfindet. | |
In Seidls neuem Film spricht Duchek mit großer Klarheit darüber, was sie an | |
SM und an der dominanten Rolle reizt. In ruhigen Einstellungen sieht man, | |
wie sie ihren Ehemann beim Nacktputzen anspornt oder ihn die Klobrillen | |
ablecken lässt. Sie spricht von Zärtlichkeit, Vertrauen und von der Liebe, | |
die sehr stark sein müsse, damit man so miteinander umgehen könne. Das | |
Schlafzimmer sei der Ort zum Kuscheln, „die härteren Dinge geschehen im | |
Keller“. | |
Dort führt sie mit Besitzerstolz ihre Sammlung an Anal-Plugs vor, und wenig | |
später sieht man, wie sie ihren Mann mit einer Seilwinde an den Hoden nach | |
oben zieht. Das Anrührende an diesen Szenen ist, dass Seidl die Akteure | |
nicht bloßstellt. Im Gegenteil, man merkt, dass die beiden etwas tun, das | |
sie erfüllt und glücklich macht, auch wenn es schwer vorstellbar ist. | |
## Eichhörnchen an Nüsse verfüttern | |
In den besten Augenblicken erinnert mich „Im Keller“ an eine Lebensregel, | |
die in einem anderen schönen Film des Festivals vorkommt: „Manche Leute | |
mögen es, Nüsse an Eichhörnchen zu verfüttern“, sagt eine Figur in Peter | |
Bogdanovichs Komödie „She’s Funny That Way“, indem sie Sätze aus Ernst | |
Lubitschs „Cluny Brown“ zitiert, „aber wenn nun einer lieber Eichhörnchen | |
an die Nüsse verfüttert, wer bin ich, ihm zu sagen: Nüsse an die | |
Eichhörnchen?“ | |
In Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag „The Cut“ ruft eine Frau: „Bewegte Bild… | |
sind Teufelswerk!“ Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, das syrische | |
Aleppo ist Durchgangsstation für Flüchtlinge, besonders für Überlebende des | |
Genozids an den Armeniern, und Nazaret, die Hauptfigur des Films (Tahar | |
Rahim), ist kurz davor, zum ersten Mal in seinem Leben ins Kino zu gehen. | |
Gezeigt wird „The Kid“ mit Charlie Chaplin, und nachdem die | |
Schwarzweißbilder eingespielt worden sind, in denen man Chaplin das Kind | |
wegnehmen will, sieht man Tränen in Nazarets Augen. Kurz nach der | |
Vorführung begegnet Nazaret einer entfernten Bekannten, die ihm berichtet, | |
seine beiden tot geglaubten Töchter seien noch am Leben. | |
## Eine Heldenreise | |
Zu diesem Zeitpunkt ist etwa die Hälfte des Films verstrichen – mit | |
folgenden Etappen: Nazaret und seine Familie, glücklich und voller Liebe, | |
im türkischen Städtchen Mardin; feindselige Haltung gegen die Armenier; | |
Zwangsarbeit; ein Massaker, bei dem Nazaret als Einziger mit dem Leben | |
davonkommt; eine Flucht durch die Wüste, die der Kameramann Rainer | |
Klausmann in spektakulär ausgebleichten Totalen wiedergibt, schließlich die | |
Ankunft in Aleppo. In der zweiten Hälfte sucht Nazaret nach seinen | |
Töchtern, was ihn über Kuba nach Minneapolis und weiter nach North Dakota | |
führt. Wenn es im Kino je eine Heldenreise gegeben hat, dann in „The Cut“. | |
Dabei achtet der Film stets darauf, dass alles auf den ersten Blick zutage | |
tritt. Wenn die Kamera im Himmel über Mardin einen Kranich entdeckt, kann | |
man darauf wetten, dass Nazaret seinen Töchtern erklären wird: Einen | |
Kranich zu sehen bedeutet, man werde auf Reisen gehen. Wenn die Grausamkeit | |
des Genozids veranschaulicht werden soll, dann blickt die Kamera in einen | |
Brunnen, in dem blau angelaufene Leichen liegen, und die von Alexander | |
Hacke komponierten Klangwände tun ein Übriges, um Subtilität zu vermeiden. | |
Es mag sein, dass Akin mit diesem Film in politischer Hinsicht Beachtliches | |
wagt (in der Türkei sind Todesdrohungen gegen ihn laut geworden), in | |
ästhetischer Hinsicht wagt er nichts, weil er sich den Konventionen des | |
Erzähl- und Ausstattungskinos hingibt, der Patina des period piece und der | |
leichten Lesbarkeit. | |
„The Cut“ kennt keine Rätsel, außer vielleicht dem, warum die armenischen | |
Figuren untereinander nicht Armenisch sprechen, sondern Englisch mit | |
Akzent. | |
31 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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