# taz.de -- Filmfestspiele in Venedig: Orgie mit akzentfreiem Feuerwerk | |
> Abel Ferrara stellt Pier Paolo Pasolini ins Zentrum seines | |
> Wettbewerbsbeitrags. Willem Dafoe schlüpft in die Rolle des Autors – eine | |
> unglückliche Wahl. | |
Bild: Der Regisseur und sein Pasolini-Darsteller: Abel Ferrara (r.) mit Willem … | |
Das Grab von Pier Paolo Pasolini liegt knapp 85 Kilometer nordöstlich vom | |
Lido di Venezia entfernt in der Ortschaft Casarsa della Delizia. Vor | |
einigen Jahren besuchte ich es. Es war ein Spätsommertag, aber der Himmel | |
hing voller Wolken, und es war kühl. Weit und breit waren wir die einzigen | |
Touristen, nach dem Friedhof mussten wir eine Weile suchen, nach dem Grab | |
auch, und das Haus, in dem Pasolinis Mutter aufwuchs und in dem der | |
Schriftsteller und Filmemacher in den 40er Jahren lebte, fanden wir erst | |
gar nicht, obwohl wir mehrmals nach dem Weg fragten. Wir drehten uns im | |
Kreisverkehr, begannen uns zu streiten, wie Paare das im Urlaub tun, und | |
wurden den Eindruck nicht los, Pasolini sei ein ungeliebter Sohn Casarsas. | |
Meine Freundin kaufte Blumen, legte sie am Grab nieder, und auf der | |
Weiterfahrt gerieten wir in ein fürchterliches Unwetter. | |
Der New Yorker Regisseur Abel Ferrara stellt Pier Paolo Pasolini in den | |
Mittelpunkt seines neuen Filmes, nachdem er sich zuletzt, in „Welcome to | |
New York“, von Dominique Strauss-Kahn hat inspirieren lassen. „Pasolini“ | |
heißt sein Beitrag zum Wettbewerb, und, wie zu erwarten, ist es keine | |
klassische Filmbiografie, stattdessen konzentriert sich Ferrara auf die | |
Wochen vor Pasolinis gewaltsamen Tod am 2. November 1975. Willem Dafoe | |
spielt die Hauptfigur, was keine allzu glückliche Wahl ist, insofern es | |
eine verdrehte Sprachsituation mit sich bringt. Während der Protagonist | |
akzentfreies Englisch spricht, reden alle anderen Figuren so, dass die | |
italienische Muttersprache in ihren englischen Sätzen spürbar bleibt. Eine | |
unglückliche Konstruktion. | |
Die ersten Bilder des Films stammen aus einem Vorführraum, Szenen aus „Die | |
120 Tage von Sodom“ sind auf einer Leinwand zu sehen, zugleich spiegeln sie | |
sich auf einer glatten Oberfläche, der Kameramann Stefano Falivene arbeitet | |
hier wie auch später immer wieder damit, dass er Flächen, Gesichter und | |
Körper aus der Dunkelheit herausmodelliert. In dem Vorführraum sitzen | |
Pasolini und andere Figuren, vermutlich Journalisten, es wird geredet, ohne | |
dass die Stimmen klar zuzuordnen wären. Probleme mit der Zensur scheinen in | |
den Dialogsätzen auf, auch die Frage, wo die Premiere stattfinden kann. | |
Später lässt sich Pasolini in seiner Wohnung in Rom interviewen, das | |
erlaubt es Ferrara, dem kulturpessimistischen Furor, der Konsumkritik und | |
der Kritik an der Abstumpfung der Menschen Raum zu geben. Und man sieht | |
immer wieder als Film-im-Film, was Pasolini zu erfinden im Begriff ist. Ein | |
essayistisch-poetischer Roman, den der Autor auf der Schreibmaschine | |
niederschreibt, wird von Ferrara in Bilder übersetzt, und auch das letzte, | |
unvollendete Filmprojekt Pasolinis nimmt Gestalt an. Es ist mutig, Ideen | |
und Entwürfe des Filmemachers zu inszenieren, es ist aber auch ein wenig | |
anmaßend, weil sich Ferrara damit, wenn nicht zu Pasolinis Stellvertreter | |
auf Erden, so doch zu dessen legitimem Erben macht. | |
Vor seinem Tod arbeitete Pasolini an einem Drehbuch zu einem Film namens | |
„Porno-Teo-Kolossal“. Das Treatment wurde 2012 veröffentlicht. Die | |
Geschichte begleitet die beiden Figuren Epifanio und Nunzio, die wiederum | |
dem Stern folgen, der ihnen die Geburt des Messias anzeigt. Sie reisen von | |
Neapel nach Mailand, von dort weiter nach Rom und Paris, doch diese | |
Stationen sind weniger tatsächliche Städte als Orte der Dekadenz und des | |
Chaos. Was Pasolini vorschwebte, war offenbar eine Mischung aus „Die 120 | |
Tage von Sodom“ und Filmen wie „Decamerone“ oder „Erotische Geschichten… | |
1001 Nacht“. Und was macht Ferrara? Er inszeniert eine Orgie, die er mit | |
Feuerwerk interpunktiert, und ein bisschen fühlt sich das an wie der kühle | |
Nachmittag in Casarsa. | |
5 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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