# taz.de -- Dokudrama aus der Schweiz: Mutige Tunten in Zürich | |
> Stefan Haupt erzählt in „Der Kreis“ vom schwulen Schweizer Untergrund der | |
> 50er. Der Film bewegt sich in einer Welt aus Varietés und Männerliebe. | |
Bild: Vermittlung schwuler Geschichte in „Der Kreis“: Ernst und Röbi liebe… | |
„Auch von einer alten Tunte kann man noch was lernen“, hat Manfred | |
Salzgeber einmal gesagt. Salzgeber war Mitbegründer des Forums der | |
Berlinale, Kinoarbeiter, Filmaktivist und zusammen mit Wieland Speck | |
Erfinder des queeren Filmpreises „Teddy Award“. Er war zudem | |
Schwulenaktivist und Gründer des ersten deutschen Filmverleihs, der | |
schwul-lesbische Filme ins Kino brachte. | |
Zwanzig Jahre nachdem Manfred Salzgeber an Aids gestorben ist, bringt die | |
Edition Salzgeber mit „Der Kreis“ nun einen Film in die Kinos, in dem man | |
von alten Tunten lernen kann. Aber hätte Manfred Salzgeber der Film | |
gefallen? | |
„Der Kreis“ von Stefan Haupt ist als Doku-Drama angelegt und entführt uns | |
ins Zürich der 1950er Jahre. Homosexualität ist in der Schweiz zwar nicht | |
strafbar, schwule Männer sind aber mit alltäglicher Homophobie konfrontiert | |
und treffen und lieben sich nur im Verborgenen. Erzählt wird die Geschichte | |
des jungen Lehrers Ernst Ostertag, der durch das geheim vertriebene | |
Schwulenmagazin Der Kreis zu einem Ball gelangt, auf dem er den jungen | |
Travestiekünstler Röbi Rapp kennenlernt. | |
Als Ernst Röbi das erste Mal auf der Bühne sieht, ist er sofort von ihm | |
fasziniert, nicht zuletzt weil er nicht glauben kann, dass sich unter | |
Wasserstoffperücke und Rouge ein biologischer Mann verbirgt. Die beiden | |
beginnen eine Beziehung, und während sie bei Röbis Arbeitermutter (gespielt | |
von Marianne Sägebrecht) mit weltoffenen Armen empfangen werden, drohen sie | |
im Mief des Bürgerhaushaltes von Ernst beinahe zu ersticken. Röbi sei „ein | |
Freund“ heißt es da, während das Silberbesteck zurechtgerückt wird. | |
## Publikumsliebling erfüllt Bildungsauftrag | |
Ursprünglich war ein kompletter Spielfilm geplant, doch machte die deutsche | |
Filmförderung Stefan Haupt einen Strich durch die Rechnung, weswegen der | |
Fluss seiner Erzählung immer wieder durch Interviewausschnitte realer | |
Figuren und anderer Zeitzeugen unterbrochen wird. Das schadet dem Film | |
nicht – er gewinnt an emotionaler Kraft, wenn die heute betagten Figuren | |
Ernst und Röbi, sympathische alte Tunten, immer wieder die gespielte | |
Fiktion durch ihre Aussagen verifizieren. | |
Überhaupt ist es Regisseur Haupt hoch anzurechnen, dass er mit seinem Film | |
etwas macht, was auf den Lehrplänen in deutschen und Schweizer Schulen | |
fehlt: die Vermittlung schwuler Geschichte. So lernen wir, dass die | |
Lufthansa-Maschinen, die freitags schwule Männer aus dem postfaschistischen | |
Deutschland nach Zürich brachten, ironisch als „Warmluft-Hansa“ bezeichnet | |
wurden, und werden in einen Untergrund entführt, in dem gut organisierte | |
Aktivisten seit den 30er Jahren ein Literatur- und Kunstmagazin betreiben, | |
das für viele die einzige Form von Selbstbehauptung und sexueller | |
Identifikation ist. | |
Dennoch kommt man nicht umhin sich zu fragen, weshalb der Film, ganz wie | |
seine Figuren, in einer kleinen Welt verhaftet bleibt und sich die | |
Perspektive auf Varieté, Männerliebe und eine beinahe konservative | |
Sexualmoral beschränkt. Lesben sind quasi unsichtbar, und die männlichen | |
Sexarbeiter, die in der schwulen Klientel ihre Kundschaft finden, werden | |
schnell zu den Dämonen der Bewegung, als erste Morde im Strichermilieu die | |
Polizei auf den Plan rufen. Eine der wenigen Frauen, die zu Wort kommen, | |
ist die Journalistin Klara Obermüller, die das „promiske“ und „flüchtig… | |
Sexleben der Männer als „wirr und chaotisch“ bezeichnet. | |
Platz für filmische Wagnisse ist in „Der Kreis“ weder auf inhaltlicher noch | |
auf formaler Ebene vorhanden. Im Stil gängigen Fernsehformaten ähnlich, | |
erfüllt er gewiss einen wichtigen Bildungsauftrag. Darüber hinaus versäumt | |
der Film allerdings den Anschluss an ästhetische, narrative und politische | |
Diskussionen eines queeren Kinos und einer Subkultur, für die „schwul“ und | |
„lesbisch“ längst nicht mehr genug sind. Das scheint aber nicht weiter zu | |
stören, denn „Der Kreis“ erntet einen Publikumspreis nach dem nächsten und | |
wurde von der Schweiz sogar ins Oscar-Rennen geschickt. | |
Wenn die mutigen alten Tunten Röbi und Ernst am Ende des Filmes heiraten, | |
haben wir viel von ihnen gelernt in einem Film, der weder sperrig noch | |
mutig ist. | |
22 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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