# taz.de -- Über die Zukunft des Kinos: Krise, welche Krise? | |
> Digitalisierung, DVDs, Streams: Die Filmkultur ändert sich. Das gute alte | |
> Programmkino stößt zwar an Grenzen – aber von Krise kann keine Rede sein. | |
Bild: Das kleinste kommerzielle Kino der Welt im sächsischen Bahnhof Radebeul-… | |
Vielleicht beginnt man am besten mit einer eher beiläufigen Beobachtung, | |
und zwar dem rätselhaften Verschwinden des "late night double feature". | |
Jeder Kinogänger, der alt genug ist, wird sich daran erinnern, dass in den | |
80er-Jahren und noch Anfang der 90er sogenannte Lange Nächte zum fixen | |
Angebot gehörten. Bei zwei, drei oder gar vier Filmen saß man manchmal bis | |
ins Morgengrauen hinein im Kino. Wobei nicht nur die klassischen B-Filme | |
und "Midnight Movies" von "El Topo" über "Pink Flamingos" zu "Eraserhead" | |
geboten wurden, sondern auch Mainstream-Sequels wie "Indiana Jones 1 & 2" | |
oder cineastische Mini-Retrospektiven mit drei Frühwerken von Louis Malle. | |
Diese "langen Nächte" gibt es nicht mehr, zumindest nicht mehr im Kino. Und | |
mehr noch: abseits der Multiplexe und Mittekinos sind Spätvorstellungen | |
nach 23 Uhr überhaupt so gut wie ausgestorben. | |
Wirtschaftlich gesehen mag das eine unbedeutende Veränderung sein. 2009 | |
legte die Gesamtbesucherzahl mit 146 Millionen Kinobesuchen um gut 10 bis | |
20 Millionen im Vergleich zu den schlechteren Vorjahren zu. 2010 verspricht | |
bislang ein mindestens so gut verlaufendes Kinojahr zu werden - wenn nicht | |
der Juni mit der Fußballweltmeisterschaft wieder ein so großes Loch reißt, | |
wie es 2006 durch die WM in Deutschland geschah. Nein, rein zahlenmäßig | |
gibt es keine Kinokrise. Und doch ist da dieses Gefühl von Niedergang und | |
großen Umbrüchen. Die Kinokultur als solche hat sich seit den 90ern | |
entscheidend verändert. Und man muss kein Zukunftsforscher sein, um | |
abzusehen, dass sich in nächster Zeit noch viel mehr ändern wird. Ein | |
bisschen ist es wie mit dem Wintersport und der Klimaerwärmung: Nach wie | |
vor fährt jeder Ski, aber fragt man die Liftbesitzer, erfährt man, dass der | |
Untergang unmittelbar bevorsteht. | |
Wo ließe sich das besser ablesen als am ältesten noch bespielten Kino | |
Deutschlands, dem Moviemento in Berlin? Bernd Sobollas Dokumentation "Auf | |
der anderen Seite der Leinwand - 100 Jahre Moviemento" kommt da gerade zur | |
rechten Zeit. Brav rollt der Film die Geschichte zwar von den Anfängen 1907 | |
an auf, richtig interessant aber wird es erst nach 70 Jahren, als das Kino | |
von einem Haufen heute namhafter Enthusiasten wie Manfred Salzgeber, | |
Wieland Speck oder Blixa Bargeld übernommen wurde. In den folgenden 30 | |
Jahren, so belegt Sobollas aus Zeitzeugeninterviews zusammengesetzter Film, | |
war hier Ins-Kino-Gehen stets mehr als bloßes Filmeschauen. Das Moviemento | |
- und nach ihm viele Programmkinos in der alten Bundesrepublik sicher | |
genauso - wird in der Erinnerung zu einem Stück Lebensart, zur | |
Begegnungsstätte einer Gegenkultur mit immer wieder neuen Akzenten und | |
"Leitfilmen". Ende der 70er war das die "Rocky Horror Picture Show" -von | |
deren Erfolg, so kommt in Sobollas Film heraus, das Konzept der Gründer | |
schließlich überrollt und vernichtet wurde. In den 80ern wiederum zeigte | |
sich an Werken wie dem Erstling "Du mich auch" von Dani Levy, dass ein | |
einzelnes Kino die Macht besitzen konnte, einen Film groß werden zu lassen. | |
Und später bewies Tom Tykwer als Programmmacher, wie schön und erfolgreich | |
zugleich es sein kann, wenn cinephile Leidenschaft die Auswahl diktiert. | |
Das Moviemento in Berlin ist ein paradigmatisches Beispiel der deutschen | |
Programmkinokultur mit ihrer Gleichzeitigkeit von Dekadenz und | |
Lebendigkeit. Die Sitze durchgesessen, die Leinwand nicht immer ganz | |
sauber, aber voller begeisterungswilliger Zuschauer. Bis, so schildert es | |
zumindest Ingrid Schwibbe, die Betreiberin des Moviemento seit 1984, in den | |
90ern die Multiplexe kamen, und damit der große Einbruch. | |
Bis zum Jahr 2000 gelang es den Multiplex-Kinos, fast die Hälfte der | |
Kinobesuche auf sich zu verbuchen; sie haben dabei den Tod vieler | |
herkömmlicher und geschichtsträchtiger Filmspielhäuser verursacht, etwa am | |
Berliner Kurfürstendamm. Trotzdem weinen den Traditionshäusern nur | |
diejenigen nach, die nie in einem der berüchtigten Schachtelkinos in der | |
ersten Reihe rechts außen sitzen mussten. Man kann die Besucherstatistik | |
nämlich auch so lesen: Die Multiplexe haben nicht nur den alten Häusern | |
Zuschauer weggenommen, sondern ganz neue generiert und mit ihren großen | |
Leinwänden jene Aufwertung bewerkstelligt, die die Kinokultur bitter nötig | |
hatte. | |
In der heutigen Diskussion über die Umstellung der Projektion auf | |
Digitalkopien geben die Multiplexe das Feindbild ab, weil sie in ihrer | |
konzentrierten Struktur besser gerüstet dastehen. Die übrigen Kinos fühlen | |
sich wettbewerbsbenachteiligt und kämpfen um staatliche Unterstützung für | |
die teure Umstellung. Und selbst wenn dieser Schritt einmal bewältigt ist, | |
weiß man heute noch nicht, ob die neue Technik mehr Chancen oder mehr | |
Bedrohungen mit sich bringt. So manch kleiner Kinobetreiber mag sich von | |
der digitalen Verfügbarkeit mehr Auswahl und weniger Streit um bestimmte | |
Kopien versprechen, fürchtet aber zugleich die größeren Gängelungsmaßnahmen | |
durch "Digital Rights Management" und andere elektronische Fallen. Und noch | |
eine weitere, subtilere und zugleich nachhaltigere Gefahr zeichnet sich mit | |
der Digitalisierung ab: Wenn sich die Projektionstechniken von Homecinema | |
und Kino immer ähnlicher werden, erübrigt sich dann das Ins-Kino-Gehen | |
nicht insgesamt? | |
Man muss kein Filmrollenfanatiker sein, um darin den Knackpunkt der | |
gegenwärtigen Entwicklung zu sehen. "Kino - dafür werden Filme gemacht" | |
gehört zu jenen Slogans, die belegen, dass die Realität umso prekärer ist, | |
je apodiktischer das Statement ausfällt. Wer heute einen Film anschauen | |
will, für den ist das Kino nur eine Möglichkeit unter vielen: Er kann | |
downloaden oder streamen, sich eine DVD kaufen oder leihen, das Angebot von | |
Pay-TV und Videotheken, analog und online, nutzen. Und hat dabei ein | |
endloses Reservoir an Titeln zur Verfügung, größer, breiter, reichhaltiger | |
denn je. Fast könnte man von einem filmischen Overkill sprechen, kommen zu | |
alldem doch auch mehr Filme denn je ins Kino. Im April im Mai 2010 starten | |
117 Filme; im gleichen Zeitraum vor zehn Jahren waren es noch 91 und 1990 | |
nur knappe 50. Das Gefühl der Krise in der Kinokultur gleicht also dem | |
einer Blase an der Börse: Noch gehen alle Werte nach oben, aber bald kommt | |
der schwarze Freitag. | |
Wer an einem normalen Samstagabend wiederum das Cinemaxx am Potsdamer Platz | |
besucht, kann ob des Sirenengeheuls nur den Kopf schütteln. Das Foyer | |
findet er voller Menschen, die lange Schlangen vor den Kassen bilden. Es | |
läuft kein besonderer Film an, und trotzdem lässt sich die Erwartung in der | |
Luft förmlich mit Händen greifen. Es sind Zuschauer aller Lebensalter | |
vertreten, wenn auch die Jungen überwiegen. Ins-Kino-Gehen funktioniert | |
allem Anschein nach ganz wunderbar im kleineren Freundeskreis, besonders | |
aber ist es die beste Möglichkeit für ein erstes oder zweites Date. Die in | |
der Luft liegende Aufregung, so stellt sich bei genauerer Beobachtung | |
heraus, bezieht sich oft weniger auf den Film als vielmehr auf den | |
Menschen, der mitkommt. Ins-Kino-Gehen, das wird nirgendwo so deutlich wie | |
hier, ist eben viel mehr als nur Filme schauen. | |
Dating als Hauptgrund dafür, überhaupt ins Kino zu gehen, dürfte auch den | |
Programmkinos nicht fremd sein. Während man im Multiplex viele "first | |
dates" sieht, kennen sich die Paare im Programmkino meist schon besser. | |
Aber auch hier zeigt sich, dass Kino mehr ist als Filme-Schauen: eine | |
Heimat für Einsame, die nicht länger zu Hause sitzen wollen, ein Ort, an | |
dem man im Dunkeln weinen kann, ein Platz des beiläufigen Genießens genauso | |
wie einer der Konzentration oder der Ausgelassenheit. Zumal es, anders als | |
etwa in der Oper, keinen Dress-Code gibt. Bier wird aus der Flasche | |
getrunken, egal ob beim koreanischen Autorenfilm, in französischen | |
Komödien, beim Dokfilm oder dem Hollywood-Klassiker. | |
Diskrete Dunkelheit | |
Wenn so die Krise aussieht - ist vielleicht alles doch nicht so schlimm? | |
Die Hochzeit der Programmkinos in den 70er- und 80er-Jahren, die in "Auf | |
der anderen Seite der Leinwand" so überschwänglich beschworen wird, sie | |
fiel in eine Zeit, als die Kinobesucherzahlen ihre historischen Tiefs | |
erlebten. Und trotzdem ist 1988 das Jahr, in dem auch das FSK in Berlin | |
gegründet wurde, heute noch eines der Kinos, das hartnäckig Filme zeigt, | |
denen niemand sonst eine Marktchance gibt. Seine Betreiber glauben | |
übrigens, dass der Kinomacher selbst mit seiner Konsequenz und seiner | |
Leidenschaft entscheidend dazu beiträgt, ob ein Programm gut läuft oder | |
nicht. | |
Schwer zu sagen, was kommen wird: Wer Filme alleine und zu Hause anschauen | |
will, hat heute endlos mehr Möglichkeiten als früher. Aber man darf das | |
Kino mit seinem schönen Oszillieren zwischen lauter Öffentlichkeit und | |
diskreter Dunkelheit, mit seinen Kennenlern- und Verbergungsmomenten nicht | |
unterschätzen. Vielleicht wird es statt der früheren 16-mm-Bewegung bald | |
"Analogmaterial-Clubs" geben. Vielleicht wird das Kino immer mehr etwas für | |
alte Zuschauer. Vielleicht entwickelt sich das Filme-Gucken und das | |
Ins-Kino-Gehen immer weiter auseinander. Aber vielleicht hat das Kino die | |
gleiche Zukunft wie eh und je: düster und schwierig, aber voller | |
Möglichkeiten. | |
"Auf der anderen Seite der Leinwand - 100 Jahre Moviemento". Regie: Bernd | |
Sobolla. Dokumentarfilm, Deutschland 2009. 82 Min. Zum Thema "Digitale | |
Kinowelten - Kinosterben nach dem Ende der Filmrolle?" findet am | |
Donnerstag, den 29. April eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in | |
Berlin statt, Informationen unter www.fes.de | |
28 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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Dokumentarfilm | |
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