# taz.de -- Filme der Zeitgeschichte: Lust an der eigenen Genealogie | |
> Die Berlinale 2009 gibt sich geschichtsbewusst. Mit unterschiedlichen | |
> Filmkonzepten soll so dem Jahr der Jubiläen Rechnung getragen werden. | |
Bild: Die Berlinale wartet mit einem geschichtsbewussten Programm auf. | |
Am Sonntagabend trifft sich die Familie. Im Zoopalast, dem | |
traditionsreichen Kino im alten Westen Berlins, feiert "Absolute Evil" | |
Premiere, ein C-Film voll großkalibriger Knarren, Blut und Rachefantasien. | |
David Carradine spielt mit; angesiedelt ist das Ganze zwischen Texas und | |
Los Angeles, und inszeniert ist es mit einer Nachlässigkeit, die sich nur | |
mit großer Mühe noch als rauer Charme begreifen lässt. | |
"Absolute Evil" ist die 52. Regiearbeit von Ulli Lommel, der einst als | |
Darsteller und Ausstatter für Rainer Werner Fassbinder arbeitete. Von ihm | |
verspricht sich Wieland Speck, der Leiter der Panorama-Sektion, einen | |
besonderen Effekt: Wenn alles nach Wunsch läuft, kommt zur Premiere die | |
ganze Fassbinder-Familie in den Zoo Palast, und dann wird der Abend eine | |
Party zum runden Geburtstag. Vor 40 Jahren nämlich präsentierte Fassbinder | |
am selben Ort "Liebe ist kälter als der Tod", in dem Lommel, Fassbinder und | |
Hanna Schygulla ein Verbrecher- und Liebestrio spielten. | |
Im Programm der 59. Internationalen Filmfestspiele Berlin finden sich | |
einige solcher Selbstbezüglichkeiten und Geschichtsverweise - besonders | |
prominent im Panorama, das in diesem Jahr zum 30. Mal stattfindet und | |
deswegen die eigene Geschichte lustvoll ausstellt. Die von Manfred | |
Salzgeber als "Info-Schau" gegründete Festivalsektion widmete sich von | |
Anfang an mit besonderer Hingabe dem Queer Cinema; sie befasste und befasst | |
sich immer wieder mit Sexualität, Geschlechterpolitik und -rollen, manchmal | |
auch jenseits dessen, was ästhetisch noch relevant ist. | |
In diesem Jahr laufen zwei Filme, die den Kommunalpolitiker Harvey Milk | |
porträtieren, den ersten schwulen Stadtrat in San Francisco, der 1978 vor | |
dem Rathaus erschossen wurde. Das Biopic "Milk" stammt von Gus Van Sant und | |
ist neu, der zweite Film, "The Times of Harvey Milk" von Rob Epstein | |
(1984), gehörte schon einmal zum Programm des Festivals. Ähnlich verhält es | |
sich mit der Figur des Dandys Quentin Crisp. Auch er ist Protagonist eines | |
neuen Films im Panoramaprogramm, "An Englishman in New York" von Richard | |
Laxton. John Hurt spielt darin die Hauptrolle. Zwei weitere, ältere Filme | |
widmen sich ebenfalls Crisp: "Resident Alien" von Jonathan Nossiter (1990) | |
und "The Naked Civil Servant" von Jack Gold (1975); in beiden ist John Hurt | |
mit von der Partie. | |
Und auch im Fall von Catherine Breillat gibt es einen Déjà-vu-Effekt. Die | |
französische Regisseurin, die sich mit ihren an der Psychoanalyse | |
geschulten, radikalen und zum Teil recht expliziten Filmen gern gegen den | |
feministischen Mainstream stellt (in "Anatomie de lenfer" etwa spielte der | |
Pornodarsteller Rocco Siffredi mit), präsentiert eine neue Arbeit, "Barbe | |
bleue", und darüber hinaus eine ältere, "Tapage Nocturne" (1979); letztere | |
war Teil der ersten "Info-Schau" und ist unter anderem deshalb | |
bemerkenswert, weil Joe Dallesandro darin mitspielt. | |
Eine Wiederbegegnung mit Dallesandro gewährleistet wiederum der Porträtfilm | |
"Little Joe", gedreht von Dallesandros Produzentin Nicole Haeusser. In den | |
Sechzigerjahren agierte Dallesandro in Filmen Andy Warhols und Paul | |
Morrisseys, in "Lonesome Cowboys", "Heat", "Flesh" und "Trash". Seine | |
Aufgabe, notiert der New Yorker Schriftsteller, Warhol-Experte und | |
Filmwissenschaftler Stephen Koch, sei es gewesen, "die Muskeln spielen zu | |
lassen, die Hüften zu schwingen und sich gelegentlich in den Schritt zu | |
fassen, sodass die Kamera immer genug zu sehen hat und nicht aufhört damit. | |
Da hätten wir es also: das männliche Sexobjekt." Das war damals in der Tat | |
sehr neu - schon weil sich Dallesandro den begehrlichen Blicken von Männern | |
wie von Frauen gleichermaßen anbot. | |
Auch jenseits des Panoramas gibt sich das Festival geschichtsbewusst - und | |
das längst nicht nur in den großen, außer Konkurrenz laufenden Produktionen | |
wie "The Reader" von Stephen Daldry oder "Adam Resurrected - Ein Leben für | |
ein Leben" von Paul Schrader. Daldry bringt den Bestseller von Bernhard | |
Schlink über eine des Lesens und Schreibens unkundige KZ-Wärterin auf die | |
Leinwand; Schrader verfilmt Yoram Kaniuks Roman "Adam Hundesohn". Jeff | |
Goldblum spielt die Rolle eines jüdischen Entertainers, dem es gelingt, das | |
Konzentrationslager zu überleben - um einen hohen Preis. | |
2009 ist ein Jahr der Jubiläen, und dieser Umstand hat sich in der | |
Programmgestaltung niedergeschlagen, etwa in der Reihe "Winter adé - | |
Filmische Vorboten der Wende". Sie präsentiert Filme aus der DDR und aus | |
osteuropäischen Ländern, die zwischen 1977 und 1989 gedreht wurden. Manche | |
waren noch nie in Deutschland zu sehen, etwa die Science-Fiction-Parabel | |
"Krieg der Welten - Das nächste Jahrhundert" von dem polnischen Regisseur | |
Piotr Szulkin (1981-83). Ihren Namen verdankt die Schau einem Film von | |
Helke Misselwitz, kuratiert wurde sie von Claus Löser, dem Betreiber des | |
Brotfabrik-Kinos in Berlin-Pankow. Löser hat zudem das Filmarchiv Ex | |
Oriente Lux aufgebaut; er ist Experte für das Underground- und | |
Experimentalkino, das in den Ländern des Ostblocks zu doppelter | |
Nischenexistenz verdammt war. | |
"Winter adé" besteht dem entsprechend nicht nur aus Spielfilmen, auch | |
Experimentelles und Dokumentarisches kommt zur Geltung, etwa Gerd Conradts | |
"Ein-Blick" aus dem Jahr 1987 oder das Debüt des Ostberliner Regisseurs | |
Thomas Heise, "Wozu über diese Leute einen Film?" (1980). Die Frage im | |
Titel will programmatisch verstanden werden. Denn seit sich Heise in seinem | |
Erstlingsfilm auf die Spur zweier Motorraddiebe begab, hat er immer wieder | |
Menschen vor die Kamera treten lassen, denen das Recht, in einem Film zu | |
agieren, nicht selbstverständlich zufällt. Bisweilen wurde es ihnen sogar | |
mit Vehemenz abgesprochen. | |
Besonders "Stau" (1992) erregte Ärgernis, waren die Protagonisten doch | |
Skinheads aus Halle, die Heise zwar nicht mit Sympathie, wohl aber mit | |
Neugier und ohne sie abzuurteilen vor die Kamera holte. In den Folgefilmen, | |
"Neustadt (Stau - Der Stand der Dinge)" (1999/2000) und "Kinder. Wie die | |
Zeit vergeht" (2007) tauchen die Figuren sowie ihr familiäres Umfeld wieder | |
auf. In der Langzeitbeobachtung entsteht ein breites Panorama dessen, was | |
es bedeutet, mit dem Systemwechsel, dem Verlust von Arbeitsplätzen, dem | |
Veröden von Stadtteilen und anderen desolaten Umständen wie Alkoholismus | |
und Gewalt in der Familie klarzukommen - oder eben nicht. | |
Im Forum stellt Heise nun seinen jüngsten Film vor, die knapp dreistündige | |
Arbeit "Material", die ihrem Titel alle Ehre macht, insofern sie Footage | |
aus dem Herbst 1989 und der ersten Zeit nach der Wende fast kommentarlos | |
kompiliert. "Immer bleibt etwas übrig, ein Rest, der nicht aufgeht. Dann | |
liegen die Bilder herum und warten auf Geschichte", heißt es ganz am | |
Anfang. Die Geschichte, die den Bildern in "Material" eine wenn auch nur | |
sehr zurückhaltende Struktur verleiht, ist die einer sekundenkurzen | |
Selbstermächtigung. In der Umbruchssituation des Herbsts 1989 versammeln | |
sich die Menschen, sie demonstrieren, sie sprechen vor der Menge. | |
Dieses Sprechen ist das, was Heise interessiert. Es wandert in alle | |
Richtungen. In Köpenick tritt eine alte, beherzte Dame vor eine | |
Gemeindeversammlung, um den jüngsten Musikabend zu loben; dafür wird sie | |
von ungeduldigen Zuhörern ausgebuht. In einer Justizvollzugsanstalt in | |
Brandenburg klagen Häftlinge darüber, von den Entwicklungen draußen | |
abgeschnitten zu sein. Sie verlangen nach einer Amnestie. Das | |
Gefängnispersonal wiederum beschwert sich, genauso an den Rand gedrängt zu | |
sein wie die Häftlinge. Die Anfeindungen auf der Straße, sagt ein | |
Uniformierter, hält er nicht mehr aus. | |
In Halle filmt Heise die Premiere von "Stau". Vor dem Saal demonstrieren | |
Linke und Antifaschisten, im Saal sitzen Skinheads und gewöhnliche | |
Zuschauer. Während der Vorführung fliegen Steine durch die Fenster, einer | |
der Neonazis hat eine Platzwunde über dem Ohr, die Situation eskaliert. | |
Eine andere Sequenz entstand im November 1990, als die Polizei die | |
besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain räumte. Ein | |
Mann rennt an den Einsatzwagen entlang; neben einem Wasserwerfer geht er | |
auf die Knie, er hebt die Hände wie zum Gebet, seine Stimme ist dabei | |
weniger flehend als drohend. "Hört doch endlich auf!", schreit er, "hört | |
doch endlich auf!" | |
5 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |