# taz.de -- Wirtschaftskrise in Russland: Rubel im freien Fall | |
> Auch wenn sich die Elite gelassen gibt, die westlichen Sanktionen treffen | |
> Russland empfindlich. Der Absturz wird jedoch noch auf sich warten | |
> lassen. | |
Bild: In Kampfesstimmung: Russlands Präsident Wladimir Putin beim Internationa… | |
MOSKAU taz | Jedes Jahr lädt der Kreml Publizisten und Russlandexperten aus | |
dem Ausland zum Gedankenaustausch im Rahmen eines Forums nach Russland ein. | |
Diese Woche fand es in der Olympiastadt Sotschi statt. Was die Experten aus | |
aller Welt lockt, ist die Gewissheit, dass sich Kremlchef Wladimir Putin | |
auf jeden Fall Zeit für sie nimmt. Denn das Forum ist Putins Geschöpf. | |
Das inoffizielle Motto der diesjährigen Konferenz streute der Vizechef der | |
Kreml-Administration Alexander Woloschin schon vor dem Eintreffen der | |
Hauptperson: „Gibt es keinen Putin, gibt es auch kein Russland mehr.“ Eine | |
schillernde Sentenz, die eins besagen soll: Russland ist Putin, und Putin | |
ist Russland. | |
Vor dem Hintergrund der Wirtschaftssanktionen, mit denen der Westen auf die | |
russische Intervention in der Ukraine reagierte, gewinnt die Ineinssetzung | |
von Putin und Russland besondere Bedeutung: Niemals lässt sich Moskau durch | |
Sanktionen - mögen sie auch noch so folgenreich sein - in die Knie zwingen, | |
lautete die Botschaft des Kremls. Wladimir Putin ist ein gekonnter | |
Unterhalter. Als er die Weltpolitik mit dem römischen Sprichwort erläuterte | |
„Was Jupiter erlaubt ist, gilt nicht unbedingt auch für einen Ochsen“, | |
erntete er lautes Gelächter. Der Bär - gemeint war Russland - sehe das ganz | |
anders, sagte er. Jupiter, den USA, werde sich dieser Bär nicht beugen. | |
Der Kremlchef befand sich in Kampfstimmung, die seltsam wirkte, weil sie | |
nicht mehr von dieser Zeit zu sein schien. Es war der Tonfall einer | |
verstrichenen Epoche. Der schrumpfende Kreis der Entscheidungsträger um | |
Putin setzt sich fast ausschließlich aus Mitgliedern der | |
Sicherheitsministerien zusammen. Sie leben in der Vorstellung, dass der | |
Westen es schon immer auf das politische Ende des Kremlchefs abgesehen | |
hatte und als Siegerprämie auch noch auf die russischen Rohstoffressourcen | |
schielt. | |
## Kapitalflucht verdoppelt | |
Müsste sich Russland nicht andere Sorgen machen, als ewig die Rivalität zu | |
den USA heraufzubeschwören? Die russische Wirtschaft ist angeschlagen. Der | |
Rubelkurs befindet sich im freien Fall. Devisenhändler verlangten schon | |
mehr als 41 Rubel für einen US-Dollar. Der Wertverlust beläuft sich bereits | |
auf mehr als ein Fünftel seit Jahresbeginn. Und die Kapitalflucht aus | |
Russland hat sich in den ersten drei Quartalen 2014 im Vergleich zum | |
Vorjahr mit 82,5 Milliarden Dollar sogar verdoppelt. | |
Gleichzeitig lahmt auch noch das Ölgeschäft, das bisher die Staatskassen | |
füllte. Der Preis für ein Fass Öl sank schon auf 85 Dollar und erreichte | |
damit den magischen Wert, welcher der Berechnung eines ausgeglichenen | |
russischen Haushalts zugrunde liegt. Experten gehen davon aus, dass | |
Russland 2015 kaum noch Wachstum erzielen wird. Viele Beobachter rechnen | |
mit einer längeren Rezessionsphase. | |
Die westlichen Sanktionen treffen Moskau besonders im Finanzbereich | |
empfindlich, weil Russland nicht mehr an längerfristige Kredite gelangt. | |
Die werden vor allem benötigt, um neue Lagerstätten von Energieträgern zu | |
erschließen, die für die Hälfte des russischen Budgets aufkommen. Der | |
staatliche russische Ölkonzern Rosneft ist klamm. Er hat den Staat um | |
gigantische Summen für die Erschließung neuer Fördergebiete gebeten. Dafür | |
sollte sogar der Rentenfonds angezapft werden. Außerdem müssen staatliche | |
Großbetriebe Dollarkredite in dreistelliger Milliardenhöhe demnächst im | |
Westen ablösen. | |
Das sind Herausforderungen, die einen Präsidenten beunruhigen müssten, auch | |
wenn er über die Macht eines absoluten Herrschers verfügt. Die | |
Gelassenheit, welche die politische Elite im Angesicht der Sanktionen zur | |
Schau stellt, ist natürlich gespielt. Die Angst ist aber noch nicht ins | |
Mark vorgedrungen. Sie gilt eher dem Schicksal der privaten Besitztümer im | |
Westen. | |
Befreundete Oligarchen Putins traf es schon. Das in Italien beschlagnahmte | |
Eigentum Arkadi Rotenbergs soll vom russischen Staat jedoch kompensiert | |
werden. Eine Lex Rotenberg ist in Vorbereitung. Wer Oligarchen in | |
wirtschaftlich angespannten Zeiten durch den Griff in die staatliche | |
Schatulle private Verluste ersetzt, scheint offensichtlich nichts zu | |
befürchten. Schon gar nicht den Groll einer Bevölkerung, die Wladimir Putin | |
einst ins Herz schloss, weil er superreichen Oligarchen den Kampf ansagte. | |
In westlichen Gesellschaften wäre längst der Ruf nach politischen | |
Konsequenzen laut geworden. Die Öffentlichkeit wäre alarmiert. In Russland | |
hingegen verhängt der Präsident Sanktionen gegen den Lebensmittelimport aus | |
der Europäischen Union und fügt den Bürgern zusätzlichen Schaden zu - | |
weniger durch den Verzicht auf schmackhaften Käse als durch höhere Preise, | |
die einheimische Händler für die Ersatzstoffe verlangen. | |
Russland ist zwar beleidigt und fühlt sich durch die unerwartet konsequente | |
Umsetzung der Sanktionen vom Westen erneut erniedrigt. Es gefällt sich aber | |
auch in der Rolle des gedemütigten Gegenspielers. Das Land steht jedoch | |
nicht am Rande einer wirtschaftlichen Katastrophe. Schließlich hat Russland | |
auch die neunziger Jahre überstanden, als der Ölpreis jahrelang bei neun | |
Dollar lag und der gesellschaftliche Umbruch alte Gewissheiten tilgte. | |
Schon damals wähnte der Westen Russland dem Untergang nahe. Doch der blieb | |
aus. | |
## Persönlicher Verzicht als patriotischer Akt | |
Der Absturz wird auch diesmal auf sich warten lassen. Die Finanzen reichten | |
noch, um mindestens zwei bis drei Jahre die Vorgaben des Haushaltsplanes zu | |
erfüllen, meint der kremlkritische Ökonom Sergei Aleksaschenko von der | |
renommierten Hochschule für Ökonomie in Moskau. Gleichzeitig ist es dem | |
Kremlchef gelungen, die Bevölkerung hinter sich zu sammeln. 80 Prozent | |
halten laut Umfragen zu ihm. | |
Putin verleiht dem Patriotismus mit neuem Boden und Blut einen kräftigen | |
Inhalt. Persönlicher Verzicht im Interesse des Landgewinns gilt bei vielen | |
Bürgern als patriotischer Akt, sogar als schick. Bisher sind es Gerüchte, | |
dass an der alten Elite der Spaltpilz nage. Wenn man über den Zusammenbruch | |
des Wechselkurses jubiliere und darüber, dass der Import zum Erliegen | |
komme, könne er sich darüber nicht freuen, sagt German Gref, der Chef der | |
russischen Sberbank. Er könne zwar auf das Essen verzichten, nicht aber auf | |
die Errungenschaften der Zivilisation. | |
Der Banker erinnerte an die hohe Importabhängigkeit Russlands, das sich nun | |
von den Segnungen der Zivilisation abschneiden würde. Die Sowjetunion sei | |
zerfallen „wegen der erschütternden Inkompetenz der politischen Führung“ | |
auf dem Gebiet der Wirtschaft, meint Gref. Die damaligen Machthaber hätten | |
die Gesetze zur Entwicklung der Ökonomie nicht gekannt oder nicht geachtet. | |
Das habe die Sowjetunion zu Fall gebracht. | |
Aus der Geschichte endlich zu lernen, forderte der Sparkassenchef. Doch | |
genau dagegen sträubt sich Putin, der die Geschichte nach seinen | |
Vorstellungen umschreiben lässt: Die Sowjetunion sei nicht wegen | |
politischer und wirtschaftlicher Inkompetenz zugrunde gegangen, sondern | |
weil die USA und der Westen sie demontiert und mit dem „Niedergang des | |
Imperiums die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ | |
ausgelöst hätten. | |
Der ehemalige Geheimdienstler ist ein Experte für die Mentalität und | |
Befindlichkeiten seiner Untergebenen. Für ihn ist es kein Geheimnis, dass | |
die Menschen in Russland in Kategorien des Raumes über ihr Land nachdenken | |
und auch so empfinden. Liebe zum Land bedeutet: Territorium und Landmasse | |
zu verehren, nicht deren Menschen. | |
Das meint der russische Philosoph Alexander Pjatigorski, der darin ein | |
spezifisch russisches Phänomen zu erkennen glaubt. Diese Emotionen und | |
vormodernen Instinkte kann der Präsident befriedigen. Wer hätte geahnt, | |
dass Putins Bedauern über die „geopolitische Katastrophe“ der UdSSR mehr | |
war als eine melancholische Reminiszenz? Heute stellt es sich als ein | |
leitendes Motiv dar, das Vorstellungen des wirtschaftlichen und | |
gesellschaftlichen Fortschritts gezielt außer Kraft setzt. Je mehr alte | |
Größe verblasst, desto fanatischer wird die Politik der Erinnerung | |
geopfert. | |
26 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
## TAGS | |
Rubel | |
Russland | |
Wladimir Putin | |
Sotschi | |
Rosneft | |
Russland | |
Russland | |
Russland | |
Opec | |
Ölpreis | |
Russland | |
EU-Kommission | |
Export | |
Russland | |
Mindestlohn | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Staatlicher Ölkonzern Rosneft: Russland erwägt Teilprivatisierung | |
Der rapide Ölpreisverfall hat den russischen Staatshaushalt stark belastet. | |
Um Druck rauszunehmen, will der Kreml nun Teile von Rosneft verkaufen. | |
Wirtschaftssanktionen gegen Russland: Die EU verlängert | |
Die Strafmaßnahmen gegen das Land gelten für weitere sechs Monate. Die | |
nationalen Regierungen müssen die Entscheidung noch bestätigen. | |
Wirtschaftskrise in Russland: Rubel stürzt trotz Leitzinserhöhung | |
Im Kampf gegen die Inflation hebt die russische Zentralbank den Leitzins | |
deutlich an. So soll der Währungsverfall aufgehalten werden. | |
Russland und die Opec-Entscheidung: Keine Freude für den Rubel | |
Nachdem die Opec die Ölfördermenge nicht drosseln will, fällt der Ölpreis | |
weiter. Das macht Nicht-Mitglied Russland ganz schön zu schaffen. | |
Kommentar Ölpreis: Eine Krise des Kapitalismus | |
Der niedrige Benzinpreis freut die deutschen Autofahrer, gefährdet aber | |
ganze Länder. Sinkt er weiterhin, könnte er die nächste Finanzkrise | |
auslösen. | |
Gasstreit zwischen Ukraine und Russland: Heizperiode gesichert | |
Es soll wieder russisches Gas in die Ukraine geliefert werden. Nach langen | |
Verhandlungen einigen sich Unterhändler beider Staaten. | |
Sanktionen gegen Russland: Der neue kalte Krieg wird teuer | |
Sanktionen gegen Russland zeigen unerwünschte Folgen im Westen, räumt die | |
EU-Kommission ein. Russlands Wirtschaft gerät tiefer in die Krise. | |
Sanktionen gegen Russland: Deutsche Exporte brechen ein | |
Der Konflikt mit Moskau um die Ukraine belastet die deutsche | |
Exportindustrie schwer. Seit den gegenseitigen Sanktionen geht es abwärts. | |
Europa-Asien-Gipfel und Russland: Sanktionen sind Erpressung | |
50 Politiker aus Europa und Asien wollen in Mailand über die großen | |
Konflikte beraten. Im Mittelpunkt: Wladimir Putin und sein Kiewer Kollege | |
Petro Poroschenko. | |
Trübe Konjunkturaussichten: Unionspolitiker wollen bremsen | |
Weil die Wirtschaft schwächelt, fordern Unionspolitiker, Vorhaben wie | |
Mindestlohn und die Rente mit 63 auszusetzen. Die SPD reagiert | |
zurückhaltend. |