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# taz.de -- Der Fall Gurlitt und die Folgen: Gesetzlich korrektes Unrecht
> Vor einem Jahr diskutierte die Weltöffentlichkeit über Cornelius Gurlitt
> und die „entartete Kunst“. Seitdem hat sich wenig getan. Woran liegt das?
Bild: Hinter dieser Tür lagerten mehr als 1.000 Kunstwerke
Von heute aus betrachtet wirkt das alles wie ein großes Unrecht, damals,
1938 allerdings, war es Recht: Und zwar in Form des Gesetzes „zur
Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“. Damit zog das
Reichspropagandaministerium tausende Gemälde oder Skulpturen moderner
Künstler ein und veranstaltete Schmähausstellungen damit. Das Gesetz gilt
nicht mehr, ist aber bis heute nicht aufgehoben worden. Kritiker werfen den
Deutschen deshalb vor, sie würden so die Aufarbeitung und Wiedergutmachung
verhindern.
In dieser Woche erst ist eine Dokumentation des englischen Fernsehsenders
BBC ausgestrahlt worden, deren Autoren für einen radikaleren Ansatz
plädieren: Ihrer Meinung nach sei ein so unermessliches Unrecht geschehen,
dass auch das moralische Recht berücksichtigt werden müsse. Das bedeutet:
Es gibt Ausnahmefälle, bei denen man sich über die Rechtslage hinwegsetzen
müsse, damit die Opfer trotzdem zu ihrem Recht kommen. Im Falle
„entarteter“ Kunstwerke würde das bedeuten, dass die ehemaligen Besitzer
Ansprüche auf die Gemälde haben, auch wenn die Enteignung damals rechtmäßig
war.
Die Frage wird auch in diesen Tagen wieder besonders heftig diskutiert,
weil sich der „Fall Gurlitt“ zum ersten Mal jährt. Cornelius Gurlitt hatte
mehr als 1.000 Kunstwerke von seinem Vater, dem Kunsthändler Hildebrand
Gurlitt geerbt, die er in seiner Wohnung in München-Schwabing lagerte.
Hildebrand Gurlitt war im Dritten Reich einer von vier Händlern, die die
„entarteten“ Kunstwerke verkaufen sollten, die zuvor aus staatlichen Museen
oder öffentlichen Sammlungen entfernt worden waren.
## Hauptlast tragen zwei Forscher im Rentenalter
Als „entartet“ galten vor allem expressionistische Künstler – Wassily
Kandinsky, Paul Klee oder Otto Dix – diejenigen also, die heute für volle
Museen sorgen. Mehr als 20.000 Kunstwerke verschwanden so aus der
Öffentlichkeit.
Ein Referent in der Abteilung „Bildende Kunst“ des
Reichspropagandaministeriums ließ eine Liste anfertigen, auf der all diese
Werke vermerkt sind. Erst nach und nach sind die fast 500 Seiten dieser
Liste wieder aufgetaucht.
Für die Titelgeschichte der [1][taz.am wochenende vom 1./2. November 2014]
hat taz-Reporter Thomas Gerlach zwei Forscher getroffen, die diese Liste
aufarbeiten. „Die Aufklärung des Falls ‚Entartete Kunst‘ in Deutschland
wird vor allem von zwei Menschen im Rentenalter vorangetrieben, die sich
ihr Wissen selbst angeeignet haben“, stellt Gerlach fest. Er schildert, wie
der Theologe Andreas Hüneke in der zentralen Berliner Forschungsstelle und
der Kirchenhistoriker Hans Prolingheuer in seiner Dortmunder Wohnung sich
beide auf ihre Art duch Zeilen voller Maler, Händler und Gemälden arbeiten.
Mit Hilfe des Kirchenhistorikers Prolingheuer hat die taz die Liste der
„entarteten Kunst“, die erst seit diesem Jahr öffentlich zugänglich ist,
[2][erstmals durchsuchbar gemacht.]
## „Wer hört die Gegenargumente möglicher Erben?“
Besonders das größere Nachwende-Deutschland habe sich seiner
NS-Vergangenheit stellen wollen, schreibt Gerlach. Völkermord, Holocaust,
Zwangsarbeit. Aufarbeitung und Wiedergutmachung seien nach 1989 das
Leitmotiv gewesen. Und die „entartete Kunst“?
Gerlach hält die Aufklärung auf diesem Gebiet nach seinen Recherchen für
schwer unterfinanziert. Auch andere Beobachter sehen die Aufarbeitung
kritisch. Die Taskforce beispielsweise, die der Herkunft des „Schwabinger
Kunstfundes“ nachgehen soll, hat bisher kaum Ergebnisse vorgelegt,//:
monierte Julia Voss jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Noch immer, beklagt sie außerdem, gebe es in Deutschland kein Gesetz, keine
unabhängige Instanz, keine Anlaufstelle für Erben, die Ansprüche erheben.
„Was, wenn ein Museum den hauseigenen Forschern Akteneinsicht gewährt -
aber nicht den Anspruchstellern? Was, wenn ein Museum die Herausgabe eines
Werks verweigert - wer hört die Gegenargumente möglicher Erben?“
## „Nicht einfach entwendet“
Cornelius Gurlitt ist im vergangenen Mai gestorben. Seinen Schatz hat er
dem Kunstmuseum Bern vermacht. Das Museum will Ende November endgültig
darüber entscheiden, ob es annimmt. Immerhin war der alte Gurlitt nur durch
ein Nazi-Gesetz an die Gemälde gekommen, die heute viele Millionen Euro
wert sind.
Das macht die nachträgliche Wiedergutmachung so kompliziert. „Die
Kunstwerke wurden nicht einfach entwendet, denn die staatlichen Museen
gehörten zum Deutschen Reich“, erklärt Imke Gielen, Rechtsanwältin und
Spezialistin für Restitutionsfragen. Ein Besitzer darf seine Kunstwerke
wegsperren, verkaufen oder sogar verbrennen.
Die Frage dürfte manchen auch deshalb nicht ganz so dringlich erscheinen,
weil die Enteigneten oft Museen waren. Ist es da wirklich so wichtig, in
welchem Museum genau ein Bild heute hängt? Schließlich, stellt Fachanwältin
Gielen fest, würde ein neuer gesetzlicher Anlauf, große Unruhe auf dem
Kunstmarkt auslösen.
## Der Fall „Sumpflegende“
Die BBC-Dokumentation zeigt auch Fälle, in denen Privatpersonen geschädigt
wurden. Im Lenbachhaus in München etwa hängt die „Sumpflegende“ von Paul
Klee. Dorthin ist das Bild auf Umwegen gekommen, nachdem es 1937 aus dem
Provinzialmuseum Hannover von den Nazis eingezogen und von Hildebrand
Gurlitt an einen Schweizer Sammler verkauft wurde. Das Problem an der
Sache: Die „Sumpflegende“ gehörte damals nicht dem Museum, sondern Sophie
Lissitzky-Küppers, die ihr Eigentum an das Museum ausgeliehen hatte. Das
war auch 1937 klar rechtswidrig. Privatpersonen sollten nie enteignet
werden.
Deshalb fordern die Erben von Lissitzky-Küppers seit Jahren ihr Eigentum
zurück. Bislang erfolglos. Eine Entscheidung des Landgerichtes München
steht noch aus. Die Rechtsanwältin Gielen bezweifelt, dass es in Zukunft
klare juristische Richtlinien bei derlei Sonderfällen geben wird: „Für
Privatpersonen werden Rückforderungen ein Kampf bleiben.“
Ist es richtig, dass die Museen, deren „entartete“ Kunstwerke in der
NS-Zeit eingezogen wurden, heute keinen Anspruch mehr darauf haben? Oder
müsste die Bundesregierung einschreiten, damit die Wiedergutmachung auch
bei der „entarteten Kunst“ vorankommt?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Die Jäger des verlorenen Schatzes“ lesen Sie in der
[3][taz.am wochenende vom 1./2. November 2014].
31 Oct 2014
## LINKS
[1] /Ausgabe-vom-1/2-November-2014/!148605/
[2] /!148689
[3] /Ausgabe-vom-1/2-November-2014/!148605/
## AUTOREN
Laura Backes
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