# taz.de -- „Entartete Kunst“ in Rostock: Der gute und der böse Engel | |
> Rostock verfügt über eine große Sammlung sogenannter entarteter Kunst. | |
> Sie stammt vom NS-Kunsthändler Bernhard A. Böhmer. | |
Bild: Das Atelier des Bildhauers Ernst Barlach, wo der NS-Kunsthändler Boehmer… | |
GÜSTROW/ROSTOCK taz | Hoch oben im mittelalterlichen Gemäuer präsentiert | |
das Kulturhistorische Museum Rostock zwischen Backsteingiebeln einen | |
Schatz, der anders ist als all die Silbermünzen, edlen Schränke und | |
Ratsherrenporträts, die hier von der Geschichte der Hansestadt und ihres | |
Umlandes künden. | |
Es ist die Sammlung des Kunsthändlers Bernhard A. Böhmer. Gemälde von Erich | |
Heckel und Oskar Schlemmer, Plastiken von Barlach, Marcks, Lehmbruck, | |
Papierarbeiten von Klee, Kandinsky, Dix, Pechstein, Feininger, | |
Schmidt-Rottluff – ein Querschnitt der Moderne, wie ihn sonst kaum ein | |
städtisches Museum vorweisen kann und wie ihn mit seiner schwierigen | |
Geschichte bisher überhaupt kein anderes Museum besitzt. | |
„Meisterwerke von Rohlfs, Lehmbruck, das erwartet man bei uns nicht“, wird | |
der Leiter des Museums heute noch sagen und von Plänen erzählen, wie die | |
Sammlung bald besser präsentiert werden soll. Doch zuerst muss man Rostock | |
wieder verlassen und 40 Kilometer südlich an den Heidberg bei Güstrow | |
fahren, wo die Kunstwerke im Mai 1945 verstreut lagen. | |
Der bewaldete Hügel des Heidbergs fällt sanft zu einem See ab. Wind reißt | |
das Laub von den Bäumen, Herbstmoder macht die Schuhe schwer, ein Mann | |
führt einen Rüden zum See, wo eine kleine Bucht zum Hundestrand bestimmt | |
ist. Hier am Ufer ließ sich Ernst Barlach 1930 ein neues Atelierhaus mit | |
Wohnung und Werkstatt bauen. Zu dieser Zeit war Bernhard A. Böhmer schon | |
Barlachs engster Mitarbeiter, der dem Bildhauer künstlerisch zur Hand ging, | |
Verkäufe erledigte und neue Verträge einfädelte. Darüber hinaus trat er dem | |
Meister seine erste Ehefrau Marga als Lebensgefährtin ab. | |
## Der Asket und der Lebemann | |
Von dieser Ménage-à-trois erzählt Volker Probst, der Geschäftsführer der | |
Ernst Barlach Stiftung, halb anekdotisch, halb stirnrunzelnd, und führt ins | |
Atelierhaus. Es muss ein symbiotisches Verhältnis gewesen sein zwischen dem | |
Asketen und dem Lebemann. Das großspurige Auftreten Böhmers, die Autos, der | |
Luxus waren Barlach fremd. „Barlach hat für sein Werk gelebt“, fasst Probst | |
zusammen. Meist hätten ihm Tabak und Rotwein genügt. Die Ambivalenz | |
versucht Probst mit einem Barlach-Spruch zu deuten: Böhmer war „ebenso sehr | |
mein guter wie mein böser Engel“. | |
Doch als das Haus fertig war, habe sich Barlach im Neubau nicht | |
wohlgefühlt. Er nutzte nur die Werkstatt, die heute Ausstellungsraum ist. | |
Vorarbeiten zum Magdeburger Ehrenmal und zum Lübecker Geistkämpfer sind zu | |
sehen. Der „Ungläubige Thomas“, der Kopf des „Schwebenden“. In der Ecke | |
lagerten nach dem Tod des Meisters 1938 die Kunstwerke aus seinem Nachlass | |
und Werke der „entarteten Kunst“. | |
Barlach wird ab 1933 zum Verfemten. Daran kann auch Böhmer mit exzellenten | |
Kontakten zum Propagandaministerium wenig ändern. Zwar hat Barlach in | |
Joseph Goebbels einen glühenden Verehrer, dennoch gilt Barlachs Werk 1937 | |
als „entartet“. Seine Großplastiken verschwinden in Depots oder werden | |
eingeschmolzen wie der „Schwebende“ aus dem Güstrower Dom. Neue Aufträge | |
bleiben aus. Barlachs Freund Böhmer aber wird wie Hildebrand Gurlitt zum | |
Händler „entarteter Kunst“. | |
## Aufstieg zum Millionär | |
„Hier im Atelier wurde Barlach zwei Tage nach seinem Tod aufgebahrt“, | |
erzählt Volker Probst und öffnet die Werkstatt mit verglastem Tor und viel | |
Oberlicht. Ein paar Stühle stehen akkurat in Reihe, als wäre die | |
Trauergemeinde gerade fort. Unter den Kondolierenden im Oktober 1938 – | |
Hildebrand Gurlitt. Böhmer bewohnt mit seiner zweiten Frau Hella, einer | |
Unternehmerstochter aus Rostock, das Obergeschoss. Nach Barlachs Tod nutzt | |
die Familie das ganze Haus. Nur das Atelier selbst soll dem Andenken | |
Barlachs vorbehalten bleiben. | |
Den Platz wird Böhmer bald benötigen. Böhmer – der „gute Engel“ – k�… | |
sich als „Verwerter“ intensiv um Rückkauf und Sicherung von Barlach-Werken. | |
Böhmer – der „böse Engel“ – lässt hinter dem Rücken Barlachs und na… | |
dessen Tod ohne Wissen des Sohnes Klaus Bronzen nachgießen. Böhmer gilt | |
bald, auch dank seiner zweiten Heirat, als Millionär. | |
Mit seinem stattlichen Vermögen steigt er groß in den Kunsthandel ein. | |
Seine guten Verbindungen zum Goebbels-Ministerium helfen. Insbesondere zu | |
Abteilungsleiter Rolf Hetsch pflegt er eine innige Beziehung. Hetsch legt | |
als einer der Verantwortlichen die Preise für „Entartetes“ fest und | |
versorgt Böhmer großzügig mit Kommissionsware. Schließlich lagern die Werke | |
auf dem Heidberg sicherer als in Berlin, wo bereits über eine Verbrennung | |
unverkäuflicher Werke geredet wird. | |
## Restbestand aufgekauft | |
1940 listet Hetsch auf knapp 500 Seiten sämtliche konfiszierten Werke auf, | |
weit über 16.000 Einzelposten – es ist die Schlussbilanz des staatlich | |
angeordneten Raubs „entarteter“ Kunst. 1943 befinden sich noch 3.000 Werke | |
im Besitz des Ministeriums. Böhmer kauft den Bestand. In der Werkstatt | |
stapeln sich die Werke, Franz Marc, Oskar Schlemmer, Otto Dix. Böhmers Sohn | |
Peter gefallen Noldes „Papua-Jünglinge“, er hängt sie sich über sein Bet… | |
Hetsch ist gern gesehener Gast, der Abteilungsleiter genießt die | |
Annehmlichkeiten am Heidberg. Bernhard A. Böhmer führt im Atelierhaus ein | |
geradezu barockes Leben, als gäbe es kein Morgen. In Wahrheit kümmert er | |
sich ab 1944 um den Absprung gen Westen. Er plant den Umzug ins | |
Lüneburgische, lässt sperrige Kunstwerke auslagern. Zu spät. Im April 45 | |
ist Böhmer, obwohl weder Mitglied der NSDAP noch der SS, wegen seiner Nähe | |
zu höchsten NS-Kreisen zum Geächteten geworden. Selbst wenn er noch Hals | |
über Kopf mit seinem Auto hätte flüchten wollen – alle Wege sind verstopft, | |
alle Elbbrücken gesprengt. | |
Kollege Hildebrand Gurlitt hat deutlich mehr Fortune. Mit Frau, Kindern und | |
Kunstsammlung ist er bei einem Freiherrn im Fränkischen untergekommen. Auf | |
dem Heidberg hingegen verwüsten sowjetische Soldaten am 2. Mai das Haus. | |
Aus der Werkstatt räumen sie alles aus. Auf die Rückseiten der Bilder malen | |
Soldaten kyrillische Buchstaben. Aus Kunstwerken werden Wegweiser für die | |
Truppe. Andere Bilder dienen als Zielscheibe. Was unbrauchbar erscheint, | |
bleibt liegen oder wird im Wald verstreut. Am nächsten Tag – Exfrau Marga | |
ist eingeweiht – nehmen Bernhard A. Böhmer, 52, und seine Frau Hella, 43, | |
Zyankali. Ein Güstrower notiert: „Böse Nachrichten aus dem Heidberg: | |
Böhmers tot, Peter lebt, Marga vergewaltigt.“ | |
## Ein Schatz auf dem Dachboden | |
Im Rostocker Kulturhistorischen Museum schaut das „Heilandsgesicht“ von | |
Jawlensky so, als hätte ihm das Drama vom Heidberg alle Hoffnung genommen. | |
Dabei hat das kleine Ölbild sämtliche Verwüstungen und die Reise nach | |
Rostock überstanden. Die Russen krümmten Sohn Peter Böhmer kein Haar. Im | |
Gegenteil, sie sorgen rührend für ihn. Ende Mai 45 expedieren sie für den | |
Zwölfjährigen die Sammlung nach Rostock. Im Haus seiner Tante Wilma, die | |
zum Vormund bestimmt wird, werden die Werke deponiert. | |
Dass sie einen Schatz unter ihrem Dach birgt, ahnt die Tante erst, als sie | |
den Werbemaler Albert Daberkow bittet, einen Blick auf die Sachen zu | |
werfen. Dem gehen die Augen über. Sind diese Bilder nicht ein Wink des | |
Schicksals? Daberkow sucht zielstrebig das Vertrauen von Alleinerbe und | |
Vormund. Er schafft die Werke mit Wissen der Tante über Berlin in die | |
Westzone. 1950 eröffnet der ehemalige Werbemaler Daberkow in Bad Homburg | |
einen Kunsthandel. Peter Böhmer und seine Tante ziehen nach Hamburg. | |
Als 1947 eine staatliche Kommission die verbliebene Sammlung in Rostock | |
sicherstellte, fand sie noch 1.162 Werke, überwiegend Grafisches, doch auch | |
Gemälde von Schlemmer, Heckel, Jawlensky. Die Bilder wurden später an die | |
Museen zurückgegeben, aus denen sie 1937 konfisziert wurden – sofern sie | |
sich in der DDR befanden. | |
613 Werke gehören heute zur Rostocker Sammlung von Bernhard A. Böhmer, dem | |
einzigen der vier „Verwerter“, der die Nazi- Zeit nicht überlebte. Der | |
„Heiland“ von Jawlensky, der Messingkopf von Rudolf Belling, die | |
Bronzemaske „Paul Wegner II“ von Barlach – wenn sie reden könnten, sie | |
hätten viel zu erzählen. Sie schweigen. | |
## Herkunft der Bilder ist bekannt | |
Stattdessen redet Steffen Stuth, der Leiter des Rostocker Museums. „Wir | |
nehmen diese Sammlung als Verpflichtung an“, versichert der 44-Jährige. Er | |
sitzt mit verschränkten Armen unter einer bemalten Balkendecke im Kloster. | |
Der Bestand sei ein einmaliges kunst- und zeitgeschichtliches Dokument, | |
weil sich nur hier die Aktion „Entartete Kunst“ ablesen lasse. Und so zeigt | |
das Museum seit 2010 einen Querschnitt der Sammlung. Doch Stuth will mehr. | |
Bis 2018 soll die Ausstellungsfläche mit einem weiteren Standort deutlich | |
erweitert werden. | |
Mag auch das Kunstmuseum Bern mit dem Gurlitt-Erbe bald über einen | |
ähnlichen Nachlass verfügen, in zwei Punkten unterscheiden sich die | |
Sammlungen. In Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ in | |
Berlin ist die Herkunft der Rostocker Bilder dokumentiert. Nur bei wenigen | |
Drucken lasse sie sich nicht mehr klären, bedauert Stuth. Außerdem ist die | |
Eigentumsfrage in Rostock geklärt. Das Bundesamt für offene Vermögensfragen | |
hat die Sammlung 2009 endgültig der Stadt Rostock zugesprochen. | |
„Böhmer hat viel gerettet“, würdigt Stuth den unfreiwilligen Stifter. | |
„Andererseits, er hat ein prima Geschäft gemacht.“ Ein Geschäft, von dem | |
viele profitiert haben. Wie groß die Zahl der Kunstwerke war, die im Mai | |
1945 auf dem Heidberg lagerte, lässt sich nicht mehr klären. Der Rostocker | |
Bestand ist durchleuchtet. Vieles andere gilt bis heute als verschollen. | |
26 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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