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# taz.de -- Elektronische Musik aus Düsseldorf: Ortsgebundene Erzählung
> Die Oral History „Electri_City“ von Rüdiger Esch untersucht die Rolle
> Düsseldorfs als Epizentrum der elektronischen Popmusik.
Bild: Beate Bartel (Liaisons Dangereuses) im Übungsraum, 1981.
Die These ist ein Evergreen, klingt aber immer noch traumhaft: Düsseldorf
liegt am Rhein, einem magischen Strom, der der Industrialisierung der Stadt
enormen Vorschub geleistet hat. „Düssel“ bedeutet etymologisch so viel wie
rauschen und tosen; ergo entsteht dort ab 1970 Forward-thinking-Pop,
steinern und kühl anmutende Musik, die um die Welt geht. „Autobahn“, „Tr…
Europa Express“, „Wir sind die Roboter“. Entworfen in analytischen
Laborprozessen. Für maschinelle Popmusik ist Düsseldorf das, was das
Mississippidelta für den Blues gewesen ist: die Wiege.
Als zentral für die erste Elektronikgeneration gilt das Bandprojekt
Kraftwerk, von dem sich alle anderen Künstler, wie etwa das Duo Neu!,
abspalten. Warum gerade Düsseldorf? Der Schriftsteller Bernd Cailloux
bezeugt dort bereits Mitte der Sechziger „eine relativ liberale
Atmosphäre“, aus der „ein kleiner Atompilz an Innovationen aufsteigen
konnte“: Akteure aus Kunst, Werbung und Musik finden unter Duldung von
Bildungsbürgern zusammen. Kunst und Kommerz schließen sich nicht aus, wobei
der „rheinische Schlendrian“ Teil dieses psychedelischen Aufbruchs ist: Es
gab, erinnert Cailloux, einfach weniger Dogmatiker als anderswo in
Westdeutschland.
Stoff für eine Oral History ist das allemal. Was hierzulande seit Jürgen
Teipels Punk- und Neue-deutsche-Welle-Story „Verschwende deine Jugend“
(2002) die eingeführte Form von Pop-Geschichtsschreibung ist, nimmt
„Electri_City“ wieder auf, führt lose Zitate und O-Töne zusammen und
strickt daraus eine ortsgebundene Erzählung.
## Erfrischende Außenansichten
Ihr Autor, Rüdiger Esch, war selbst Teil dieser Düsseldorfer Popszene,
Mitglied der Punkband Male und später bei Die Krupps. Er hat für
„Electri_City“ nicht nur Lokalhelden befragt, sondern auch britische
Musiker aufgetan, die sich von der elektronischen Musik aus Düsseldorf
haben inspirieren lassen. Ihre Außenansicht tut dem Fluss des Buches gut.
Weniger nachvollziehbar ist allerdings, warum Esch bereits mit dem Jahr
1986 aufhört und somit die Protagonisten von House und Techno unter den
Tisch fallen.
Dass die beiden öffentlichkeitsscheuen Kraftwerk-Gründungsmitglieder Ralf
Hütter und Florian Schneider auch für „Electri_City“ eisern schweigen,
lässt sich unter running gag verbuchen. Wenigstens spricht ihr Kollege
Wolfgang Flür, Teil der Quartett-Besetzung von Kraftwerk (1973–1987). Er
datiert den Urknall im Vorwort auf das Jahr 1974, als „Autobahn“ erschien,
das dritte Album seiner Band, ihr erstes, vollständig elektronisch
eingespieltes Produkt, das auch durch sein nüchternes Albumcover den
Gesamtkunstwerkcharakter unterstreicht. „Wir wollten zeigen, dass es auch
in Deutschland eine stilistisch eigenständige moderne Unterhaltungsmusik
gab“, sagt Flür über den Innovationsschub seiner Band, der immer auch mit
den Klischeevorstellungen des Teutonischen spielte.
Sieben Jahre später klingt das elektronische Kunstwollen weitaus
skeptischer. „Ich war definitiv heimatlos. Das würde ich unterstreichen.
Wir haben uns nie großartig zu dieser Stadt bekannt“, sagt Beate Bartel,
Berliner Künstlerin, und mit dem Bayern Chrislo Hass und dem Franzosen
Krishna Goineau Teil des New-Wave-Trios Liaisons Dangereuses und der
zweiten, durch Punk und New Wave inspirierten Elektronikgeneration, die im
Umfeld der Kneipe Ratinger Hof entstanden war.
## Morphisches Urgefühl
Die Verwerfungen durch Punk wurden in Düsseldorf von Anfang mit
experimenteller Art-School-Musik zusammengedacht, was zu einer kreativen
Explosion führte, deren Druckwellen bis heute zu spüren sind. Was
angloamerikanische Bands wie Pere Ubu und Wire anfingen, wurde im
Düsseldorf der späten Siebziger und frühen Achtziger fortgeführt. Das
Zuhause von Liaisons Dangereuses war zeitweilig das Studio des Produzenten
Conny Plank. Dort experimentierten sie mit dem Synthesizer Korg MS-50. „Da
gab es ein Grundmuster, ein morphisches Urgefühl, dass das jetzt der
Zeitklang ist … Es geht um ein Wegkratzen alter Formen“, erzählt der
Schriftsteller Peter Glaser über jene Zeit.
„Electric_City“ bricht Mitte der achtziger Jahre ab, liest sich bis dahin
aber unterhaltsam und findet eine Balance zwischen Selbstbeweihräucherung
und Selbstkritik. „Wir haben immer nach vorne geschaut. […] Aber plötzlich
war elektronische Musik die Vergangenheit. Der Weg nach vorn war von
Revivals verstellt“, bilanziert der Brite Paul Humphreys, Düsseldorf-Fan
und Musiker von Orchestral Manoeuvres in the Dark. Jüngere müssen diese
Geschichte fortsetzen oder umschreiben.
3 Nov 2014
## AUTOREN
Julian Weber
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