Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neue Sachlichkeit: Die Flut kommt
> Er zog sich vor den Nazis nach Cuxhaven zurück und begann, das Watt zu
> fotografieren. Nun ist das Wattwerk des Fotografen Alfred Ehrhardt in
> Oldenburg zu sehen.
Bild: Alfred Ehrhardt: Strömungsseen, Watt, 1933-1936 (Ausschnitt)
HAMBURG taz | Wie er wohl das erste Mal ins Watt gestiefelt ist? Ob er sich
gleich weit raus getraut hat oder ob er lange noch den Küstensaum im Blick
behalten hat? Im Watt kann man schließlich schnell verloren gehen! Man geht
forsch geradeaus; meint genau zu wissen, wie man zurückkommt – und dann ist
da plötzlich Wasser, entstehen Rinnsale, laufen langsam, aber stetig die
Priele voll. Und dann steigt das Wasser und steigt.
1933 lebt Alfred Ehrhardt in Cuxhaven; hat sich dorthin zurückgezogen, als
ihn die Nazis in Hamburg aus dem Hochschuldienst entlassen haben. In den
nächsten drei Jahren wird er das Watt fotografieren. Abstrakt und
künstlerisch intendiert, geschult von seiner Zeit am Dessauer Bauhaus und
dem Konzept und dem Gestus der Neuen Sachlichkeit verpflichtet.
Nun sind seine Wattfotografien im [1][Oldenburger Landesmuseum für Kunst
und Kulturgeschichte] zu sehen – die meisten als Originalabzüge. Stockwerk
für Stockwerk geht es dafür bis unters Dach des Museums, die goldene Treppe
mit dem leuchtend roten Teppich hinauf. Oben angekommen dann die reine, die
reinste Schwarz-Weiß-Welt.
## Erst Musiker, dann Maler
Dabei war Alfred Ehrhardt davor Maler, noch davor Musiker; genauer:
Organist. 1901 in Thüringen geboren, studiert er Kunst in Gera und Hamburg.
Fängt an zu unterrichten, unter anderem am Internat Marinau des jüdischen
Reformpädagogen Max Bondy im Landkreis Lüneburg. Bondy schickt ihn ans
Bauhaus, wo er Ehrhardt Oskar Schlemmer und Wassily Kandinsky kennenlernt.
Weiter geht es nach Hamburg, wo er an der reformorientierten
Landeskunstschule lehrt, der heutigen HFBK.
1933 folgerichtig der Rauswurf. Er geht nach Dänemark, unterrichtet auch
dort, will aber unbedingt zurück. In Cuxhaven ergibt sich die Möglichkeit,
als Organist und Chorleiter zu arbeiten und sich so über Wasser zu halten.
Mit Blick auf Elbmündung, Watt und Insel Neuwerk.
Hier entstehen seine Wattstudien, bis heute beeindruckende Strukturbilder,
die ebenso an Luftaufnahmen wie an mikroskopische Querschnitte erinnern.
Titel lauten: „Einfache Längswellen“. Oder: „Längswellungen mit spitzen
Querwellungen“. Ergänzt werden seine Wattbilder in der Oldenburger
Ausstellung durch weitere Fotoarbeiten entlang der norddeutschen Küste. Der
Horizont kommt hinzu, eine Insel taucht auf. Spuren von Tieren sind zu
erkennen. Das Meer trifft auf Land: „Die Flut kommt“.
## Konzeptionell-abstrakter Blick
Ganz am Ende der Ausstellung dann zwei Bilder mit Menschen: eine Frau läuft
am Bildrand durch das Watt. Und ein Mann mit Kind in einem Kahn ist zu
sehen: grafisch eingebettet in die Landschaft; fast scheu scheinen sie in
Richtung des Fotografen zu blicken. Man bekommt eine Ahnung, wie wenig
Ehrhardts immer auch konzeptionell-abstrakter Blick zu den rüden
Herrschaftsgesten und Handlungen der Nazis passten, deren Interesse am
Grenzland zwischen Festland und Meer vor allem einem galt: der
Landgewinnung.
1936 kündigt Ehrhardt von sich aus seine Cuxhavener Anstellung. Nach
mündlicher Überlieferung seiner ersten Frau habe es zwischen ihm und dem
ihm vorstehenden Pfarrer nicht nur persönliche Spannungen gegeben. Der
Pfarrer ist Mitglied der Deutschen Christen – dem Projekt der Nazis, die
deutschen Christen einzubinden und absolut auf Linie zu bringen.
In den drei Cuxhavener Jahren aber schafft er sein zentrales fotografisches
Werk, dass er in zahlreichen Lichtbildervorträgen auch im Ausland
präsentiert. Und das im Fotoband „Das Watt“ mündet. „Es ist das letzte
Buch, das nicht in der von den Nazis durchgesetzten Frakturschrift gedruckt
wurde“, sagt Museumsdirektor Rainer Stamm. Zugleich schlägt Ehrhardt in
Cuxhaven ein neues künstlerisches Kapitel auf: Er beginnt zu filmen. Sein
erstes Werk: „Urkräfte am Werk“. Ein Film über – das Watt.
## Ablehnung der Nazis
Auch nach Oldenburg führt ihn sein Weg – und er realisiert im Auftrag des
damaligen Museumsdirektors Walter Müller-Wulckow 1939 einen Bildband über
niederdeutsche Madonnen aus dem Mittelalter. Die beiden Männer freunden
sich an – sie eint ihre Ablehnung der kulturpolitischen Vorgaben der Nazis.
Stamm will das allerdings auch nicht überbewertet wissen. „Beide konnten
noch arbeiten, beide haben sich arrangiert. Aber beide hatten eine Idee, wo
ein Zugeständnis beginnt und wo es nicht stattfinden soll.“ In der Tat:
Ehrhardt fährt mit einem „Kraft-durch-Freude-Dampfer“ nach Norwegen und
fotografiert dort die Landschaft. Titel eines 17-minütigen Filmes, den er
1941 für die Tobis Filmgesellschaft dreht: „Flanderns germanisches
Gesicht“. Andere Auftragsprojekte zerschlagen sich schnell: Ehrhardts
Ästhetik will bei allem Bemühen doch nicht den Vorstellungen der Nazis
entsprechen.
1943 wird bei der Bombardierung Hamburgs sein Atelier zerstört. Zum Glück
lagern viele seiner Negative und Abzüge bei einem Sammler. Warum er nicht
als Soldat eingezogen wird – man weiß es bis heute nicht. 1950 dreht er,
der zuvor eine eigene Filmgesellschaft gegründet hat und nun zwei
Jahrzehnte so genannte Kulturfilme auch für das neue Fernsehen drehen wird,
seinen nächsten Film: über den unter den Nazis verfemten Bildhauer Ernst
Barlach. Ohne Kommentar, nur unterlegt mit Musik von Peter Tschaikowsky und
Anton Bruckner. Dafür gibt es den Bundesfilmpreis und den Preis der
Biennale von Venedig. Und auch den Preis der Internationalen Filmfestspiele
in Sao Paulo: für die beste Fotografie.
## ■ „Alfred Ehrhardt – Das Watt“, Eröffnung: So, 8. 2., Landesmuseum …
Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Bis 17. Mai
6 Feb 2015
## LINKS
[1] http://www.landesmuseum-oldenburg.niedersachsen.de/
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Nazis
Oldenburg
Cuxhaven
Bauhaus
Fotografie
zeitgenössische Fotografie
Hamburg
Doku
Kunst
Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Filmreihe über Dokumentarfilmer: Der Mensch als Stilbruch
Natur und Landschaft in extrem stilisierten Schwarzweig-Bildern: die Reihe
„Alfred Ehrhardt – Der filmende Bauhäusler“ im Hamburger Metropolis-Kino.
Kunstpädagogik und Bauhaus: Der Bauhäusler
Die Ausstellung „Alfred Ehrhardt – Malerei, Zeichnung, Grafik“ ist der
Beitrag der gleichnamigen Stiftung zum Bauhaus-Jubiläum.
Fotografie in der Alfred Ehrhardt Stiftung: Knallharter Realismus
Die Ausstellung „Über das Ephemere in der Fotografie“ zeigt die Auflösung
des Bildgegenstands und überrascht mit einem hohen Frauenanteil.
Hamburgs Wattenmeer: Insulaner fürchten Naturschutz
Hamburger Senat will den Schutzstatus im Nationalpark und auf der Insel
Neuwerk verschärfen. Das gefällt nicht allen Einwohnern. Sie bangen um ihre
Existenz.
Unbekannter Kameramann: Der Weltenbildermacher
Kameramann Bernd Meiners kann eine große Zahl von Arbeiten vorweisen, viele
preisgekrönt. Den 63-jährigen Hamburger kennen wenige.
Kunst-Avantgarde-Schule Black Mountain: Feuer einer anderen Bildung
Das Black Mountain College ist oft mit dem Bauhaus verglichen worden. Eine
Berliner Ausstellung räumt mit der irrigen Annahme auf.
Fotoausstellung Vivian Maier in Berlin: Ein menschlicher Blick
In den 50er Jahren erforschte das Kindermädchen Vivian Maier New York und
Chicago. Ihre Fotografien sind aufsehenerregend.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.