# taz.de -- Schulmarketing in Deutschland: Der Kampf um die Köpfe | |
> Der Einfluss der Wirtschaft auf Schulen wächst. Firmen manipulieren mit | |
> kostenlosen Bildungsangeboten die Kunden von morgen. | |
Bild: „Jeder bekommt von der Lehrkraft ein Stückchen Schokolade“, steht in… | |
„Der Bildungspuls schlägt in Hannover“ – so heißt der Slogan der | |
diesjährigen Didacta. Auf der größten europäischen Fachmesse für | |
Bildungswirtschaft werden sich erneut mehrere 10.000 Besucher tummeln und | |
dabei auch den Puls der Wirtschaft spüren. Seit mehr als 20 Jahren ebnen | |
die Kultusministerien immer mehr Unternehmen und ihren Verbänden den Weg in | |
das einst ausschließlich staatlich verantwortete Schulsystem. Mit der | |
salonfähig gewordenen Forderung nach der „Öffnung von Schule“ haben | |
privat-öffentliche „Bildungs- und Lernpartnerschaften“ ein historisches | |
Ausmaß erreicht. | |
So offenbarte die Pisa-Studie 2006, dass mehr als 87 Prozent der | |
15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchen, an der Industrie und | |
Wirtschaft Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben, was selbst im | |
OECD-Vergleich an einen „Negativrekord“ grenzt. Dabei beschränkt sich der | |
Einfluss privater Akteure im Bildungssektor nicht mehr nur auf Geld- und | |
Sachspenden anlässlich von Schulfesten sowie gelegentliches | |
Schulsponsoring. Längst hat die Privatwirtschaft den Markt für | |
Unterrichtsmaterialien entdeckt – und flächendeckend geentert. Jahr für | |
Jahr drängen mehr Unternehmen in Richtung Schule. So produzieren inzwischen | |
16 der 20 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland | |
Unterrichtsmaterialien. | |
Auch dieses Jahr nutzen zahlreiche Aussteller die bei Lehrerinnen und | |
Lehrern äußerst beliebte Messe, um für ihre teils dubiosen | |
(Fort-)Bildungsangebote zu werben. Dazu gehören etwa die My Finance Coach | |
Stiftung oder das vom Bundeswirtschaftsministerium initiierte Projekt | |
„Unternehmergeist macht Schule“, zu dem unter anderem die Initiative | |
„business@school“ der Boston Consulting Group, das Network For Teaching | |
Entrepreneurship und das Bankenplanspiel „Schul/Banker“ gehören. | |
Nahezu täglich greifen Lehrerinnen und Lehrer auf Bücher, Broschüren und | |
Bildbände privater Bildungsanbieter zurück, obwohl ersichtlich ist, dass | |
die 1.000 Initiativen, die vorgeben, sich um die schulische | |
Allgemeinbildung verdient zu machen, mehrheitlich nur mit ihr verdienen | |
wollen, indem sie die Jüngsten an ihre Marken binden. | |
## Selektiv, tendenziös, manipulativ | |
Weil in Zeiten klammer kommunaler Kassen die Schulbuchetats sinken, die | |
Kopierkontingente gedeckelt und neue Schulbücher immer seltener angeschafft | |
werden, gelingt es den Unternehmen immer breitenwirksamer, die Schulen mit | |
selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien zu | |
speisen. Selbst etablierte Markenartikelhersteller scheuen nicht davor | |
zurück, kostenfreie Schulhefte mit Firmenlogos zu verteilen, Mitarbeiter in | |
Schulen zu entsenden oder Produktproben an Kindertagesstätten in Umlauf zu | |
bringen, um Kinder und Jugendliche zu manipulieren. | |
Ein „mustergültiges“ Beispiel für das noch immer verkannte Ausmaß von | |
„Schulmarketing“. liefert der Schokoladenhersteller Alfred Ritter GmbH & | |
Co. KG. Auf der als Unterrichtsmaterial deklarierten | |
Ritter-Sport-Werbemappe mit dem Titel „Von der Kakaobohne zur Schokolade“ | |
prangt derselbe Schrifttyp wie auf der handelsüblichen | |
Schokoladenverpackung. In der Aufgabenstellung zum Unterrichtseinstieg, der | |
als Entspannungs- und Konzentrationsübung erfolgt, heißt es: „Ein Stück | |
Genuss: Bildet einen Stuhlkreis in der Klasse. Jeder bekommt von der | |
Lehrkraft ein Stückchen Schokolade. Konzentriert euch nun ganz auf das | |
Schoko-Stück. Jetzt geht es reihum und jeder darf sagen, was ihm zum Thema | |
Schokolade einfällt. Wenn jeder einmal an der Reihe war, darf das | |
Schoko-Stück aufgegessen werden.“ | |
Die Lehrkraft soll hierzu eine ausreichende Zahl von Schokoladenstücken | |
bereithalten. Anschließend lernen die Grundschüler, dass Schokolade mit | |
Belohnung, Glück, Entspannung oder gar Schmerzlinderung und Gesundheit | |
gleichzusetzen ist: Endorphine „wirken auf deinen Körper schmerzlindernd | |
und entspannend und geben ein gutes Gefühl. Außerdem ist Schokolade einfach | |
lecker und damit eine gute Belohnung.“ | |
## In Schulen Geschäfte anbahnen | |
Auch immer mehr Banken und Versicherungen, die nach den Verwerfungen an den | |
Kapitalmärkten ihre Reputation zurückgewinnen wollen, entwickeln | |
Unterrichtsmaterialien, um Schulen als neues Geschäftsanbahnungsfeld urbar | |
zu machen. Zu den erfolgreichsten PR-Initiativen zählt das Planspiel Börse | |
des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Diejenigen Schüler, die binnen | |
zehn (!) Wochen die größten Anlageerfolge erzielen, werden mit Preisen | |
bedacht. | |
Dass auch sieben Jahre nach Ausbruch der größten Wirtschafts- und | |
Finanzmarktkrise in den vergangenen 80 Jahren noch Kurzfristigkeit und | |
-sichtigkeit als Maßstab für Geldanlagen propagiert werden, ist skandalös | |
genug. Unabhängig davon muss man zugleich fragen, warum die Sparkassen in | |
einer zur Neutralität verpflichteten Bildungsinstitution unverblümt um die | |
Sparer von morgen buhlen dürfen. | |
Diese Frage provoziert auch der 2010 gegründete Verein Geldlehrer | |
Deutschland e. V. Darin haben sich zahlreiche „ehrenamtlich“ tätige | |
Versicherungsmakler zusammengefunden, die mittlerweile in mehr als 2.200 | |
Unterrichtsstunden mit über 3.100 Lernenden „Sparpläne, Darlehen, | |
Ratenkredite, Inflation und sogar ihre eigene Altersvorsorge“ berechnet | |
haben. Trotz des unlängst verabschiedeten „Ehrenkodex“, wonach | |
Werbemaßnahmen im Unterricht zu unterlassen sind, liegt der Verdacht nahe, | |
dass die Geldlehrer auch deshalb 2.900 Euro für ihre dreitägige Ausbildung | |
aufwenden, um in den Klassenzimmern gezielt für ihre Finanz- und | |
Versicherungsprodukte zu werben, indem sie die staatliche | |
Umlagefinanzierung schlecht- und das privatwirtschaftlich organisierte | |
Kapitaldeckungsprinzip schönreden. | |
## Risikodiversifikation für Zwölfjährige | |
Auch das schulische Engagement der mit knapp 3,1 Millionen Euro | |
ausgestatteten Initiative „My Finance Coach“ wirft die Frage auf, ob das | |
knappe Zeitkontingent bereits bei Zwölfjährigen auf die Fragen „Wie sorge | |
ich privat für das Alter vor?“, „Wie betreibe ich bei meinen Finanzanlagen | |
Risikodiversifikation?“ und „Wie versichere ich mich richtig?“ verwandt | |
werden sollte. Eine zu kritischem Bewusstsein erziehende finanzielle | |
Bildung, die auf die Gefahren von Missbrauch durch Finanzintermediäre | |
verweist oder vor finanziellen Risiken bei Geldanlagen warnt, findet dabei | |
nicht statt. | |
Zudem erteilen die Finance Coaches der beteiligten Gründungsunternehmen | |
Allianz, Grey und McKinsey auf Basis der umfassenden Materialsammlung | |
Unterricht. Wollen wir wirklich, dass Vermittler von Strukturvertrieben | |
Schulen besuchen, um neue potenzielle Kunden zu werben, indem sie erst | |
deren Ängste vor Altersarmut schüren und dann die kapitalgedeckte | |
respektive private Altersvorsorge als Allheilmittel propagieren? | |
Im Wissen darum, dass ein in jungen Jahren erlangtes Weltbild besonders | |
nachhaltig prägt, drängen immer mehr privatwirtschaftliche Akteure auch | |
deshalb in die Schulen, weil sie eine Kultur des unternehmerischen Denkens | |
und Handelns verankern wollen. Während bis in die 1980er Jahre hinein die | |
Humanisierung und Demokratisierung der Arbeit aus der Perspektive der | |
Arbeitnehmerschaft beleuchtet wurde, sieht sich die Analyse, Deutung und | |
Erkundung arbeitsweltlicher Phänomene seit einiger Zeit einer Vereinnahmung | |
durch arbeitgeberorientierte Initiativen wie „business@school“, „Schüler… | |
Chefsessel“, „Gründerwoche“ oder „Junior – Schüler erleben Wirtscha… | |
ausgesetzt, die mit dem Aufbau von Schülerfirmen das | |
betriebswirtschaftliche Denken zum Dreh- und Angelpunkt | |
sozialwissenschaftlicher Lehr- und Lernprozesse erklären. | |
## Seriosität und Neutralität enttarnen | |
Aber Schulen sind der Auf- und nicht der Verklärung verpflichtet, haben | |
folglich nicht die Aufgabe, Verhaltensdispositionen und Weltbilder | |
heranzuzüchten. Da Kinder und Jugendliche im Umgang mit Meinungen | |
vergleichsweise unerfahren sind, müssen die ihnen vorgetragenen Inhalte und | |
Standpunkte behutsam ausgewählt und hinsichtlich ihrer Stoßrichtung | |
austariert werden. Denn weder können sich die Umworbenen den unterrichtlich | |
eingebetteten „Werbeveranstaltungen“ entziehen noch wissen Lernende den im | |
Unterricht vermittelten Eindruck von Seriosität und Neutralität der | |
externen Experten in jedem Einzelfall zu enttarnen. | |
Längst ist im einstigen „Schonraum Schule“ ein Kampf um die Köpfe der | |
Kinder entbrannt, der die Unterrichtsqualität gefährdet und das auf | |
kritische Reflexion zielende emanzipatorische Bildungsverständnis aushöhlt. | |
Es ist an der Zeit, dass die bildungspolitischen Entscheidungsträger den | |
schulischen Allgemeinbildungsauftrag nicht länger auf dem Altar | |
privatwirtschaftlicher Interessen opfern, sondern die Schultore für dubiose | |
Akteure schließen. Andernfalls werden Schulen endgültig zu | |
Werbeplattformen. | |
Eine Langfassung des Artikels ist in der Zeitschrift „WestEnd. Neue | |
Zeitschrift für Sozialforschung“ (11. Jg., Heft 2, 2014) erschienen. | |
1 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
T. Engartner | |
B. Krisanthan | |
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