# taz.de -- Interview mit russischer Aktivistin: „Die meisten sind verängsti… | |
> Olga Romanowa war eine enge Freundin des ermordeten Putin-Kritikers | |
> Nemzow. Im vor dem Attentat geführten Interview ist sie wenig | |
> optimistisch. | |
Bild: Verhaftung des Putin-Kritikers Boris Nemzow bei einer Demonstration in Mo… | |
taz: Alexei Nawalny hat für Sonntag zum „Frühlingsmarsch gegen die Krise“ | |
aufgerufen. Er selbst sitzt wieder in Haft und wird nicht teilnehmen. | |
Außerdem verbannten die Behörden die Demonstration an den Stadtrand. Kann | |
dieser erste Protest nach Monaten etwas ausrichten? | |
Olga Romanowa: Ich bin gegen den Marsch, weil diese Art des Protestes nicht | |
in die Zeit passt. Wir müssen uns andere Formen überlegen, die weniger | |
gefährlich und trotzdem wirksam sind. | |
Was könnte das sein? | |
Die Opposition sollte dazu aufrufen, ein halbes Jahr keinen Wodka, keine | |
Zigaretten oder Benzin zu kaufen. Oder ein paar Monate Strom und | |
Nebenkosten nicht zu bezahlen. Das sind wichtige Einnahmen. Die Machthaber | |
wären schnell gesprächsbereit. Das ist ja nichts Neues. Martin Luther King | |
und Gandi haben es vorexerziert. | |
Gehen Sie nicht zum Marsch? | |
Ich bleibe im Büro und mache Notdienst, falls jemand verhaftet wird. Wir | |
haben uns deswegen aber nicht zerstritten. Um mal wieder Lenin zu zitieren: | |
Es liegt keine „revolutionäre Situation“ vor. Auch wenn jemand in Zürich | |
sitzt und sich für Iljitsch (Lenin) hält. Die Geschichte wiederholt sich | |
nur als Farce. | |
Denken Sie da an Michail Chodorkowski? | |
... | |
Fürchten Sie, dass es zu Massenverhaftungen kommt wie im Mai 2012 vor | |
Putins dritter Amtseinführung? | |
Die meisten sind verängstigt, das kann man keinem übelnehmen. Mir sagte | |
gerade jemand, er habe früher demonstriert, Geld gespendet und sei dann zum | |
Verhör einbestellt worden. Seither habe er um seine Familie Angst. Auf | |
Wodka könne er aber verzichten. | |
Halten Sie soziale Proteste für möglich, wenn die Lage noch schwieriger | |
wird? | |
Am Sonntag ist es noch kein Marsch der leeren Kochtöpfe. Der folgt später. | |
Darauf müssen wir vorbereitet sein. Die marginalisierten Schichten und | |
Lumpenproletarier werden nicht gegen Putin, sondern gegen die USA und | |
Deutschland demonstrieren. Ihr Hass wird sich gegen uns „Helfershelfer des | |
State Department“ richten. | |
Was passiert dann? | |
In fünf Jahren haben wir ein anderes Land, vermutlich eines, wo diese | |
marginalisierten Schichten den Ton angeben. Gewinner wird der Typ Arbeiter | |
der Panzer- und Waggonfabrik „Uralwagonsawod“ sein, der Putin ja schon nach | |
den Protesten 2012 anbot, nach Moskau zu kommen und die Hauptstadt mal | |
richtig aufzumischen. Dieser Schlag übernimmt die Macht, lässt sich | |
volllaufen, ballert erst mal in alle Richtungen, bis dann eine Zeit der | |
Wirren anbricht. Die Macht fällt dann dem zu, der gerade unterm Baum liegt, | |
sei es der Nationalist Dmitri Rogosin, Verteidigungsminister Schoigu oder | |
auch Alexei Nawalny. | |
Und wenn es zu einer Palastrevolution käme… | |
… oder unser Oberst unerwartet stürbe und Neuwahlen angesetzt würden, dann | |
wählt die Mehrheit der Russen auf jeden Fall einen Hardliner aus Putins | |
direktem Umfeld: Igor Setschin von Rosneft oder den Leiter der | |
Kremladministration, Sergej Iwanow. Aber auch die Tage eines jeden | |
Nachfolgers sind gezählt. Die finanziellen Rücklagen reichen gerade mal für | |
anderthalb Jahre. Bleibt nur zu hoffen, dass es mit dem Atomköfferchen so | |
ist wie mit allem anderen bei uns: längst kaputt, nur hat es niemand | |
bemerkt. | |
Ein apokalyptisches Szenario ohne jeglichen Ausweg? | |
Alles hängt von der Entwicklung in der Ukraine ab. Verliert sie, haben auch | |
wir keine Chance. Gelingt ihr wenigstens etwas: Kann sie den Krieg | |
anhalten, der EU näher rücken, den Wirtschaftsbankrott abwenden oder die | |
Korruption bekämpfen, haben auch wir noch den Hauch einer Chance. Ich rufe | |
den Westen daher auf, der Ukraine zu helfen. Dort entscheidet sich das | |
Schicksal Russlands, Europas, am Ende das der ganzen Welt. Wir sprechen von | |
Diktatur und einer endgültigen Zerlegung des internationalen Rechtsgefüges. | |
Wenn die Ukraine das nicht abwehrt, weiß ich nicht, wie es weitergehen | |
soll. | |
Ist Russland überhaupt noch für die Außenwelt empfänglich? | |
Nein, es hört das Klopfen nicht mehr. Wir leben in einem Kokon wie eine | |
Seidenraupe und schlafen langsam ein. Was schlüpft, ob Schmetterling oder | |
Drachen, hängt von der Umgebung und der Ukraine ab. Uns mit Nadeln zu | |
malträtieren oder mit Zucker zu füttern, macht keinen Sinn mehr. Wir wissen | |
selbst nicht, was in uns steckt. | |
Begreift die herrschende Elite, wie verfahren die Lage inzwischen ist? | |
Selbst der ungebildetste Teil der Elite hat einen Sinn für Realität. Nicht | |
zufällig meinte ein Minister neulich im alternativen Kanal „doschd“: Wir | |
werden bis zur letzten Patrone das Feuer erwidern. Es steht schlecht um | |
unser Volk, es ist krank. Leider gibt es nur ein Mittel zur Genesung: eine | |
schwere Niederlage. Wir müssen gezwungen sein, uns mit den ewig | |
wiederkehrenden Abgründen auseinanderzusetzen - wie Deutschland nach dem | |
Krieg. | |
Sollte der Westen der Ukraine Waffen liefern? | |
Nein, davor habe ich Angst. Er sollte Geld, Wissen und Experten aus allen | |
Bereichen zur Verfügung stellen. Die Ukraine braucht das, weil sie die | |
eigenen Kräfte für anderes verausgaben musste. | |
Machen die Sanktionen eigentlich Sinn? | |
Die Sanktionen schaden auch unserer NGO dem „Einsitzenden Russland“, ich | |
verstehe aber, dass es keine Alternative gibt. Trotzdem kann ich nicht dazu | |
aufrufen, die Sanktionen noch zu verschärfen. Denn sie treffen vor allem | |
die kleinen und mittleren Betriebe. Privatinitiative geht zugrunde. Putin | |
fing damit an, die Sanktionen erledigen den Rest. | |
Was schlagen Sie vor? | |
Die Sanktionen stärker zu personifizieren und das Geld der Leute um Putin | |
zu suchen. Wie es die Amerikaner machen. | |
28 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
## TAGS | |
Boris Nemzow | |
Wladimir Putin | |
Opposition | |
Moskau | |
Russland | |
Russland | |
Russland | |
Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats | |
Attentat | |
Ermittlungen | |
Moskau | |
Mord | |
Moskau | |
Attentat | |
Opposition | |
Mariupol | |
Moskau | |
Propaganda | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ermittlungen gegen Kreml-Kritiker: Mordvorwurf gegen Chodorkowski | |
Russland wirft dem im Exil lebenden Oppositionellen vor, 1998 an der | |
Ermordung eines Bürgermeisters beteiligt gewesen zu sein. Beweise fehlen | |
bislang. | |
Kommentar Russlands NGO-Gesetz: Angst vor der Freiheit der Anderen | |
Das Gesetz über „unerwünschte Organisationen“ bedroht die | |
Zivilgesellschaft. Auf dem Spiel steht jedoch mehr: der Anstand. | |
Debatte Slawische Orthodoxie: Patriarchen unter sich | |
In Russland und in der Ukraine haben die orthodoxen Kirchen an Einfluss | |
gewonnen. Das befeuert den Konflikt zwischen beiden Ländern. | |
Nach Mord an Boris Nemzow: Fragwürdige Suche nach den Tätern | |
Bei der Fahndung in Moskau gibt es viele Ungereimtheiten. | |
Überwachungskameras sind mal an, mal aus. Und auch ein Schneepflug spielt | |
eine Rolle. | |
Kommentar Mord an Boris Nemzow: Neutrale Ermittler sind nötig | |
Putin hat die Aufklärung des Mordes zur Chefsache erklärt. Das klingt gut. | |
Damit ist aber kaum zu erwarten, dass auch in seiner Umgebung ermittelt | |
wird. | |
Trauermarsch für Boris Nemzow: „Diese Kugeln sind für jeden von uns“ | |
Zehntausende beteiligen sich an einer Demonstration für den ermordeten | |
Oppositionellen. Viele bezweifeln, dass der Täter je gefasst wird. | |
Porträt Boris Nemzow: Der Freidenker | |
Der Kremlkritiker war kein Mann, der aufgab. Er setzte sich seit jeher für | |
ein demokratischeres Russland ein. Der Mord an ihm erschüttert das Land. | |
Mord an russischem Oppositionellen: Trauerkundgebung in Moskau | |
Nach der Ermordung Boris Nemzows zeigt das russische Fernsehen ein | |
Überwachungsvideo vom Tatort. Zu einer Kundgebung werden heute 50.000 | |
Menschen erwartet. | |
Mord an Kreml-Kritiker Nemzow: Attentat auf das bessere Russland | |
Die Welt trauert um den ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow. Dieser | |
hatte Putins Ukraine-Politik zuletzt stark kritisiert und Rache gefürchtet. | |
Mord in Moskau: Attentat auf Putin-Kritiker Nemzow | |
Oppositionspolitiker Boris Nemzow wurde nahe des Kremls hinterrücks | |
erschossen. Er galt als scharfer Kritiker Putins. Die Opposition ist | |
schockiert, Merkel „bestürzt“. | |
Kämpfe und Waffenabzug in der Ukraine: Möglicher Angriff auf Mariupol | |
In der Ukraine haben beide Seiten mit dem Abzug schwerer Waffen begonnen. | |
Der US-Geheimdienst vermutet dennoch einen Angriff der Separatisten im | |
Frühjahr. | |
Friedensdemo in Moskau: Mut machen in schweren Zeiten | |
Tausende protestieren gegen die Ukraine-Politik von Präsident Putin. Die | |
Zustimmung für ein militärisches Eingreifen im Nachbarland sinkt. | |
Russisches Propaganda-Fernsehen: Verstümmelte Teddybären | |
Ein Animationsfilm in Russlands Kinderkanal erzählt von den Gräueln der | |
ukrainischen Armee – und von Russland als barmherzigem Samariter. |