# taz.de -- Frühjahrsoffensive im House-Sektor: Im Resonanzraum der Musik | |
> Produzenten wie Helena Hauff, Hieroglyphic Being und Romare machen House | |
> mit Geschichtsbewusstsein zukunftsfähig. | |
Bild: Hieroglyphic Being. | |
Auch nach drei Jahrzehnten ranken sich Mythen um das Dancefloorgenre House. | |
An der Beantwortung der Frage „Wer hat die erste Houseplatte aufgenommen?“ | |
etwa scheiden sich die DJ-Geister. House ist seine eigene Legende, seine | |
„sonic history“ ist Teil der afroamerikanischen Geschichte. | |
Genau das macht den Stil interessant – für diejenigen, die seit Jahrzehnten | |
House-Tracks produzieren, und diejenigen, die sich behutsam einem Genre | |
annähern, das älter ist als sie. House ist eine urban legend –untrennbar | |
verbunden mit ihren Entstehungsorten Chicago und Detroit, US-Metropolen des | |
Mittleren Westens, die man respektvoll zitiert und dabei immer wieder | |
fortschreibt – von Produzenten der Frühzeit ebenso wie auch von denjenigen, | |
die sich aus heutiger Perspektive die damals entstandene Musik aneignen. | |
Der Brite Archie Fairhurst alias Romare ist einer von ihnen. Als Kind war | |
er von der Plattensammlung seines Vaters fasziniert: Blues, Jazz, Folk, | |
alles säuberlich geordnet. An der Uni beschäftigte sich der | |
Elektronikproduzent aus Südlondon dann mit afroamerikanischer | |
Kulturgeschichte und schrieb eine Abschlussarbeit über Miles Davis. Sein | |
Alias hat er sich vom Künstler Romare Bearden entliehen, der das | |
afroamerikanische Leben im New York der Bürgerrechtsära in Collagen | |
festgehalten hat. Und seine Musik? | |
Die klingt, wie man es sich bei diesen Einflüssen vorstellt. Auf seinem | |
Debütalbum „Projections“ sampelt Romare aus und für den Resonanzraum der | |
Geschichte. Auf „Work Song“ erinnert er an die Lieder, die von Sklaven auf | |
den Plantagen oder von Häftlingen bei der Strafarbeit a cappella im | |
Call-and-Response-Modus gesungen wurden. Romare nimmt diesen Modus auf, | |
moduliert seine Samples und legt einen Gesangsfetzen von Nina Simones „Work | |
Song“ darüber. | |
## Nina Simone arbeitet | |
„I’m working“, singt sie, wieder und wieder. Schließlich war Singen genau | |
Simones Arbeit. Mit dem Sampling einer einfachen Phrase entwirft Romare ein | |
Geschichtsbild, in denen die Nachfahren der Sklaven zwar singen dürfen, es | |
aber noch einige Jahrzehnte dauern würde, bis sie Astronauten und | |
Präsidenten sein können. Romares Resonanzraum ist zwar geschichtsbewusst, | |
aber zum Glück nicht belehrend. Man kann „Projections“ zuhören, dazu | |
tanzen, whatever. | |
Nur die Gegenwart darf man hier nicht suchen, denn die Housespielarten vor | |
seiner Londoner Haustür von 2Step bis zu Deep Tech hallen in Romares Musik | |
nicht nach. Dabei besteht kein Widerspruch zwischen einem historisch | |
abstrakten Wissen über Genres und Motive – wie es Romare beweisen will – | |
und der Körperlichkeit eines House-DJ-Sets. | |
## Ein dritter Körper | |
Schon die ersten, zirka Mitte der Achtziger erschienenen Houseplatten, | |
übertrugen das Körperwissen von Disco mit Hilfe von Sampler, Drummachine | |
und Synthesizer auf einen neuen dritten Körper. Der New Yorker Afrikan | |
Sciences (bürgerlich Eric Porter Douglas) wurde damals DJ, weil er am | |
Aufbrechen von Rhythmen interessiert war. Gerade ist sein drittes Album | |
„Circuitous“ erschienen, und auch hier ist House wieder zunächst ein | |
Resonanzraum für Musikgeschichte. Aber Afrikan Sciences begreift die | |
ungeschriebenen Gesetze des Genres weniger als Blaupause denn als | |
Laboratorium. Auf „Transient Authority“ spielt er mit einem klassischen | |
HipHop-Beat, dessen Bass die Fundamente immer weiter verschiebt, bis daraus | |
schließlich ein schlurfender Paartanz wird. | |
Afrikan Sciences improvisiert auf „Circuitous“ wie ein Jazzmusiker, dessen | |
Gegenüber die Maschinen sind. Er studiert ihre Eigentümlichkeiten und | |
seziert ihre Parameter, sodass er schließlich mit nur wenigen | |
Modifikationen spontan einen wohlgeordneten Rhythmus mit einer | |
wabernd-kosmischen Melodie kreuzen kann. | |
## Dialog mit HipHop | |
Dabei übt sich seine Musik in Zurückhaltung; die Maschinen, und damit | |
letztlich ja auch ihre Produktmanager, übernehmen nicht die Kontrolle, | |
sondern bleiben Werkzeug. So gelingt Afrikan Sciences ein Kunstgriff: Der | |
Abstraktionsgrad seiner Musik steht derjenigen von Elektronikproduzenten | |
wie dem britischen Duo Autechre in nichts nach, aber seine Abstraktion | |
entspringt nicht einem Bedürfnis nach Versinken im Sequencer, sondern | |
zuerst einem Dialog mit HipHop, Funk, Afrobeat oder Jazz. | |
Afrikan Sciences ist nur einer der Produzenten, der House als Mittel für | |
eine Fortschreibung von Jazz nutzt. Ein anderer ist Jamal Moss aus Chicago. | |
Als Produzent nennt Moss sich Hieroglyphic Being – ein Name mit Geschichte. | |
Schon Jazzpionier Sun Ra bediente sich im alten Ägypten für seine | |
Privatmythologie. Und spielt Hieroglyphic Being nicht einen | |
Midi-Controller, der wie ein Blasinstrument gespielt wird – ähnlich wie das | |
elektronische Saxofon von Marshall Allen, dem jetzigen Bandleader des Sun | |
Ra Arkestras? | |
Hieroglyphic Being geht jedoch die unterkühlte Seite des Afrofuturismus ab, | |
stattdessen bedient er sich seiner technisch unbedarften Psychedelic. Auf | |
„The Seer of Cosmic Visions“ moduliert Moss seine Synthesizer weit | |
außerhalb der Taktvorgabe, aber niemals so entspannt, dass man ihn des | |
wohltemperierten Eskapismus beschuldigen könnte. Stattdessen improvisiert | |
er seine Tracks in seinem winzigen Studio in langen Sessions. | |
## Wie eine Block Party | |
Sie klingen roh, sind nur grob abgemischt, ihnen fehlt der | |
millisekundengenaue Effekteinsatz moderner Musiksoftware. Die Improvisation | |
ist dabei die große Konstante in der Musik von Jamal Moss und seinen vielen | |
Pseudonymen. Ähnlich wie auf einer Block Party hört man in seinen Stücken | |
immer die großartige Musikgeschichte Chicagos: Free Jazz, Industrial vom | |
WaxTrax-Label, Juke und natürlich früher House. Moss besitzt sogar die alte | |
Drummachine von Steve Pointdexter, einem Housepionier, der Moss früh | |
gefördert hat. | |
In dieser Geste wird die Prekarität sichtbar, die sich durch die Geschichte | |
von House und seinen Subgenres zieht – man unterstützt sich, weil es | |
notwendig ist, um Musik machen zu können. Diese Improvisationsfähigkeit ist | |
es, die House seit Jahrzehnten für Künstler interessant macht, die keine | |
Lust haben, sich entlang der Imperative neu zu erfinden, die gerade als | |
Schlüsselqualifikation gehandelt werden. Dass afroamerikanische Musik dabei | |
im Mittelpunkt steht, ist fast schon gute Tradition. | |
## An der Schnittstelle von Noise und Dance | |
Auch die kunstaffinen Tracks an der Schnittstelle von Noise, Experiment und | |
Dance, die in den letzten Jahren auf Labels wie L.I.E.S. (New York) oder | |
The Trilogy Tapes (London) erschienen sind, haben House als ihre Grundlage, | |
wenngleich auch in unterschiedlichen Ausprägungen. Die Hamburger | |
Produzentin und DJ Helena Hauff etwa hat ein Faible für sämtliche | |
elektronischen Spielarten der Achtziger zwischen belgischem New Beat, | |
Detroit Techno und Chicago House. Auf ihrer neuen EP „Lex Tertia“ wird der | |
prekäre Minimalismus früher Housetracks zur dystopischen Elektrohymne. | |
Wie jede Hipster-Aneignung der Popgeschichte steckt auch Hauffs Musik | |
voller Nostalgie, aber sie ist intelligent genug, mit Reverb und Hall | |
genügend Distanz zwischen sich und der Geschichte zu schaffen. Im Video zu | |
ihrem Track „The First Time He Thought He Died“ verwendet Hauff grobkörnige | |
VHS-Aufnahmen eines kenternden Schiffs, sodass selbst die Assoziation mit | |
Mittelmeerflüchtlingen noch durch ein Bewusstsein der eigenen Privilegien | |
gefiltert ist. | |
Diese hört man im Klang von Hauffs Musik, die auf analogem | |
Vintage-Equipment ohne Computer produziert wird. Ob mit altem Equipment | |
oder Software – der Signatursound der Housespielarten aller hier | |
versammelten Produzenten ist unfertig und intim und wirkt wie eine | |
Antithese zu den großen Dancefestivals, dem millionenschweren DJ-Zirkus der | |
Mixmag-Top-100. | |
## Von New York nach Berlin | |
Der US-Produzent und DJ Anthony Naples beginnt sein Debütalbum „Body Pill“ | |
dann auch erst mal mit einem zweiminütigen Gitarrenfeedback, bevor er einen | |
aus alten Soulsongs zusammengesampelten Houserhythmus in den Vordergrund | |
fadet. Naples ist vor einiger Zeit aus New York nach Berlin gezogen, weil | |
die Clubs der Stadt mittlerweile so teuer sind, dass es selbst für einen | |
gefeierten Produzenten schwierig wird, dort auszugehen. Dabei hat Naples | |
vor einiger Zeit gemeinsam mit Produzenten wie Ron Morelli dafür gesorgt, | |
dass New York auf der zeitgenössischen Houselandkarte überhaupt wieder eine | |
Rolle spielt. | |
„Outsider House“ war damals der etwas unglückliche Oberbegriff für diesen | |
losen Verbund von House-Afficionados. Dabei müsste man bei „Body Pill“ | |
eigentlich von Folk sprechen: Musik, die mit einem Kontinuum kommuniziert | |
und trotzdem eine eigene Geschichte erzählt. Naples’ Sound changiert | |
zwischen krautigen Synth-Flächen und jackenden Beats, mal übersteuert er | |
die Bassdrum, dann wieder lässt er dezent einen Rimshot aufblitzen. | |
So wird aus der funktionalen Dancemusik House etwas, das der | |
US-amerikanische Bürgerrechtler W. E. B. DuBois einst als „the souls of | |
folk“ bezeichnet hat – egal ob black oder white. | |
13 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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