# taz.de -- Jimmy Somerville über neues Album: „Emotionaler Schrei des Herze… | |
> Jimmy Somerville, der Mann mit der Falsettstimme, will der Discomusik | |
> ihren politischen Sprengstoff wiedergeben. Ein Gespräch über | |
> Polyesterhosen und Kämpfe. | |
Bild: Stolz darauf, früh über Homosexualität geredet zu haben: Jimmy Somervi… | |
taz: Mr Somerville, die Genresprache Disco müssten Sie doch fließend | |
sprechen … | |
Jimmy Somerville: … na klar, schließlich habe ich mich in dieser | |
musikalischen Sprache jeder Menge Coverversionen gewidmet, etwa Donna | |
Summers „I Feel Love“ damals noch mit Bronski Beat. Von meiner darauf | |
folgenden Formation, The Communards, gibt es Interpretationen von Thelma | |
Houstons „Don’t Leave Me This Way“ und Gloria Gaynors „Never Can Say | |
Goodbye.“ Jetzt hat sich der Kreis geschlossen und ich bin mit „Hommage“ | |
wieder zu meiner großen Liebe Disco zurückgekehrt. Vielleicht ist der | |
Spruch abgedroschen, aber er passt hier so schön – alte Liebe rostet nicht. | |
Und doch sollte erst gar kein Album erscheinen? | |
Ich habe zunächst lediglich an einer EP gearbeitet, sehr elektronisch und | |
Lo-Fi. Nicht überproduziert, einfach nur zur Veröffentlichung im Internet. | |
Dabei habe ich auch Discoschnipsel verarbeitet. Dadurch hatte ich Blut | |
geleckt, und mir kam die Idee, meine Liebe zum Genre Disco ausführlicher zu | |
reflektieren. Unmittelbar begann ich mit einer Freude an der Sache zu | |
arbeiten und entdeckte dabei auch die Lust, mal ein Album zu machen, das | |
vom ersten bis zum letzten Stück von mir geschrieben wurde. Und diese Lust | |
ist wie ein Funke auf alle übergesprungen, die an diesem Album | |
mitgearbeitet haben. | |
Nach Lo-Fi und Elektronik klingt „Hommage“ aber definitiv nicht. | |
Die zunächst rein elektronischen Klänge schrien einfach danach, groß werden | |
zu dürfen. Und in Sachen Disco sind bei mir auch so viele Emotionen im | |
Spiel, die erfordern die Wärme von ganz normalen Instrumenten. Wir haben | |
deshalb konsequent auf Computer und Synthesizer verzichtet und zudem alles | |
live eingespielt. Mit echten Streichern und echten Bläsern. | |
Ich habe alles getan, um der Disco-Musik ihren Enthusiasmus und ihre pure | |
Emotion zurückzugeben. Deshalb sind auf der Platte auch große, hymnische | |
Melodien zu hören, die mit Herzblut geschrieben sind und sonniger nicht | |
sein könnten. Das war nur möglich, weil es nur um Musik ging – nicht um | |
Egos, nicht um Dramen, nicht um Diven. Aber ich will auch durch einen | |
kämpferischen Subtext Discomusik wieder zu ihren Wurzeln zurückführen und | |
eine leidenschaftliche Erinnerung an ihr aufrührerisches Potenzial | |
wachrufen. | |
… um welchen kämpferischen Subtext und welches aufrührerische Potenzial | |
geht es dabei? | |
Damit spreche ich den ursprünglichen politischen Sprengstoff der Discomusik | |
an. Das Genre Disco wird immer noch vom Grundsatz her missverstanden. Das | |
hängt schlichtweg damit zusammen, dass dabei heutzutage jeder an | |
irgendwelche Büropartys denkt, bei denen komische Leute mit Polyesterhosen | |
und schrecklichen Kraushaarperücken zu Bee-Gees-Musik tanzen. | |
Doch in den Anfangstagen war Disco keine banale Tanzmusik, es war Teil des | |
amerikanischen Untergrunds, sowohl ein Teil der schwarzen als auch der | |
schwulen und lesbischen Subkultur. Es war eine soziale und politische | |
Bewegung. Es ging um Freiheit und Befreiung. Dann jedoch schlug das weiße | |
heterosexuelle Amerika zu und verleibte sich Disco ein. Und vertrieb die | |
Schwarzen und die Schwulen aus dem Discoparadies. Spätestens ab diesem | |
Zeitpunkt ist Disco zum Geschäftsmodell mutiert, mit dem Millionen verdient | |
werden sollen und schließlich auch werden. Über Musik wird zu diesem | |
Zeitpunkt schon lange nicht mehr gesprochen. | |
Gehört es auch zu Ihrem politischen Statement, dass die erste | |
Live-Kostprobe der Discostücke aus „Homage“ bei der Aftershowparty zur | |
Filmpremiere von „Pride“ im September 2014 im Electric Ballroom in Camden | |
Town, London, zu hören waren? | |
Unbedingt, der Film „Pride“ von Regisseurs Matthew Warchus erzählt | |
ebenfalls eine weitgehend vergessene Geschichte. Nämlich die der britischen | |
Organisation Lesbians and Gays Support The Miners (LGSM) und ihr Engagement | |
im Rahmen des Bergarbeiterstreiks von 1984. Und auch in diesem Zusammenhang | |
hat Discomusik eine große Rolle gespielt. Denn fast genau 30 Jahre zuvor | |
habe ich am gleichen Ort mit meiner Band Bronski Beat beim Benefizkonzert | |
Pits & Perverts ebendiese Musik gespielt, um ordentlich Geld für die | |
Unterstützungskasse der Bergarbeiter zusammenzubekommen. | |
Aber etwas ganz Wichtiges muss ich noch anmerken, damals wie heute ging und | |
geht es, vermittelt durch die Discomusik, auch immer um etwas Positives. | |
Etwas Optimistisches … | |
… etwas, was das Kämpferische beflügelt, etwas, das Kraft verleiht? | |
… natürlich; denn diese Kraft wird nötiger denn je gebraucht. Wir leben in | |
einer Zeit voller Unruhen, Umbrüche und Widersprüche – politisch, | |
ökonomisch, aber auch persönlich. Das Erbauliche in meinen Liedern oder | |
das, was ein Lächeln ins Gesicht zaubert, kann diese notwendige Kraft | |
spenden. Ansonsten würden wir doch in der Unbill ertrinken und wären | |
handlungsunfähig. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Nicht umsonst haben | |
beispielsweise in Kriegszeiten an Theatern Shakespeares Komödien | |
Hochkonjunktur. Oder denken Sie nur an die Beerdigungszeremonien in New | |
Orleans, wo Tod und Freude nah beieinander sind. | |
Wenn wir schon über Kraft, Wirkung und kämpferische Untertöne sprechen, | |
dann ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass vor 30 Jahren das | |
Bronski-Beat-Stück „Smalltown Boy“ erschien. Das Lied hatte Einfluss auf | |
eine ganze Generation von Homosexuellen, wie wichtig ist es heute noch? | |
Als jemand, der selbst aus einer kleineren Stadt kommt und für den es als | |
bekennenden Homosexuellen in Glasgow sogar gefährlich wurde, wusste ich, | |
wovon ich rede. Und ich bin stolz darauf, darüber geredet zu haben. Ich bin | |
mir auch des Einflusses bewusst, den „Smalltown Boy“ noch heute auf die | |
jüngste Generation Schwuler hat. Das ist ein emotionaler Schrei des | |
Herzens. Das Stück ist ehrlich und roh, und es hat noch die Macht, Leute zu | |
bewegen. Und dass sich die Leute bewegen, ist so lange wichtig, solange es | |
noch Länder gibt, in denen Leute wegen ihrer sexuellen Orientierung | |
diskriminiert, gejagt und misshandelt werden. | |
24 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Franz X. A. Zipperer | |
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