# taz.de -- Avantgarde-Musik von Elliott Sharp: Die Vibes stimmen | |
> Der New Yorker Multiinstrumentalist Elliott Sharp kommt von Jazz und | |
> Blues. Nun hat der Künstler eine Oper über Walter Benjamin komponiert. | |
Bild: Beim Zum-Klingen-Bringen: Elliott Sharp. | |
Auf einem Schutthaufen am Straßenrand oder unter Dutzenden Exemplaren im | |
Baumarkt wäre sie leicht zu übersehen. Im Handteller von Elliott Sharp | |
nimmt diese unscheinbare braune Kachel eine völlig andere Gestalt an – sie | |
wird zum Auslöser von Klang. Seine Fingerkuppen scheinen das bloße Material | |
zu öffnen, bereits die Berührung lässt vorstellbare Töne erklingen. | |
Jede ihrer Ecken habe eine eine andere Textur, erzählt Sharp fasziniert. | |
Bis in solche winzigen Details macht sich der New Yorker | |
Multiinstrumentalist und Komponist verschiedene Oberflächen zunutze, um die | |
Saite eines Instruments in Schwingung zu versetzen. Deshalb zählt er die | |
Kachel ganz selbstverständlich zu seinen Bögen, von denen er eine Auswahl | |
mit nach Berlin gebracht hat. Seit Januar ist Sharp Stipendiat der American | |
Academy in Berlin und genießt die Ruhe und Konzentration in einem der | |
Gästehäuser am Wannsee mit seiner Frau, der Videokünstlerin Janene Higgins, | |
und ihren beiden Kindern. | |
In dem großzügigen Wohnzimmer lenken eine Sprungfeder und das Stück eines | |
metallenen Leitungsrohrs umso mehr die Aufmerksamkeit auf sich. Letzteres | |
hat Sharp auf einer Seite poliert, auf der anderen mit Schlitzen in | |
unregelmäßigen Abständen versehen, um eine ebensolche Vibration der | |
Gitarrensaiten zu erzeugen. | |
Außerdem nutzt er Slides, fingerlange Metallröhrchen, denn im Blues ist er | |
ebenso zu Hause wie in improvisierter und durchkomponierter Musik. Mit zwei | |
angefeuchteten Fingern reibt er über den Korpus der Gitarre und ein Akkord | |
erklingt, mit dreien eine Harmonie. „Dieser Klang ist nicht anders | |
herzustellen“, meint Sharp. | |
In dieser schlichten Feststellung liegt die Keimzelle seines musikalischen | |
Wirkens. Die Frage danach, wie er die Klänge, denen er lauscht oder welche | |
seinem inneren Ohr vorschweben, in reale Schallereignisse übertragen kann, | |
bestimmt seine Entscheidung für ein gegebenes Instrument oder eines, dessen | |
Möglichkeiten er durch Umbauten erweitert oder gar neu erfindet. Für die | |
„Pantar“ versah er einen aufgefundenen Metalldeckel mit den Hälsen | |
weggeworfener Gitarren, Tonabnehmern und Saiten. Gegebene Instrumente hat | |
er nicht einfach studiert, sondern durchdrungen. | |
## Verborgene Potenziale | |
„Ich habe Saxofon gelernt, weil ich die Musik von John Coltrane, Anthony | |
Braxton und Ornette Coleman aus dem Instrument hören wollte, in das ich | |
ein- und ausatme. Ich habe dem Bluesmusiker Robert Johnson nachgespürt, wie | |
er einen Country-Blues auf seiner Gitarre spielte und wie ich den Klang von | |
Jimi Hendrix erreiche. Und mir dann die Bandbreite an Gitarrenliteratur im | |
Jazz erschlossen“, beschreibt Sharp seinen Prozess. | |
„Bei der Arbeit mit einem Instrument entstehen Rückkopplungen und du | |
entdeckst seine verborgenen Potenziale. Sie bringen dich darauf, zu | |
überlegen, wie du eine Ordnung mit ihnen herstellen kannst. Solange deine | |
Lösung in sich konsistent ist, eine Architektur aufweist und einen Grund | |
hat, da zu sein, schaffst du ein musikalisches Werk“, ist Sharp überzeugt. | |
Im Auffinden und der Wahl der richtigen Mittel, ihrer anschließenden | |
Zusammensetzung und Schichtung ist Elliott Sharp ein außergewöhnlich | |
bewanderter Künstler, dessen kreative Ressourcen nie zu versiegen scheinen. | |
Improvisieren und Musik am Computer notieren liebt er aus dem gleichen | |
Grund: Sein Denken bringt augenblicklich Klänge hervor, sei es auf der | |
elektrischen Gitarre oder mit einem grafischen Programm, das er | |
zugeschnitten hat auf seine Bedürfnisse. | |
## Gelungene Übersetzung | |
Sharp versteht sich als Übersetzer schöpferischer Impulse. Jeder von ihnen | |
müsse den passenden Modus finden, sich zu manifestieren – sei es mit einem | |
Soloinstrument, einer Partitur, einer grafischen Notation oder einer | |
konzeptuellen Anleitung. Wenn dann ein Orchester, ein Streichquartett oder | |
ein Trio aus E-Gitarre, Bass und Schlagzeug Sharps Stücke zu Gehör bringt, | |
ist die Übersetzung gelungen. | |
Prägend für die Auffassung seines Tuns war und ist das Essay „Die Aufgabe | |
des Übersetzers“ von Walter Benjamin. Demnach gibt Sharp nicht einfach | |
innere Klänge wieder, sondern lässt sie wachsen, den Kompositionsprozess in | |
Gang setzen und die Instrumentierung bestimmen. Benjamins Essay ist | |
eingeflossen in Sharps Oper über die letzten Stunden des Philosophen, der | |
auf der Flucht vor den Nazis 1940 im spanisch-französischen Grenzort | |
Portbou Selbstmord beging. | |
Für das seit Jahren gehegte und letzten Oktober in New York City | |
uraufgeführte Projekt spielte Sharp elektroakustische Sounds ein und wählte | |
die Besetzung mit dem Bassbariton Nicholas Isherwood, der Pianistin Jenny | |
Lin und dem Akkordeonisten William Schimmel; Janene Higgins’ | |
Videoprojektionen rahmen das Geschehen von „Port Bou“. Am 25. April wird | |
die Oper in Berlin aufgeführt. | |
Bis Ende Mai arbeitet er im Rahmen des Stipendienaufenthalts an einer neuen | |
Oper über den Philosophen Baruch de Spinoza. „Er war der Ansicht, alles | |
Seiende ließe sich auf den Begriff der Substanz zurückführen, weshalb ich | |
die Oper auch so nenne“, so Sharp. „Wir können unter der Substanz, wie | |
Spinoza, Gott verstehen, worauf unser Begriff von physikalischer Materie | |
beruht. Mich interessiert diese Auffassung, wonach alles in allem | |
widerhallt und nicht nach einem höheren Plan Gottes abläuft und welche | |
Rolle die Vorstellungskraft dabei spielt.“ | |
Der niederländische Philosoph sephardischer Abstammung wurde aufgrund | |
seiner Thesen 1656 aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen und mit einem | |
Bann belegt, der bis heute formal gültig ist. „In der jüdischen | |
Sonntagsschule hörte ich als Kind den Rabbi von Spinoza als einem Ketzer | |
sprechen, dessen Ideen dem Judentum schadeten. Für mich aber machten sie | |
Sinn, auch wenn ich noch Angst hatte, zuzugeben, Atheist zu sein. | |
Agnostiker, ja, das war ich bereits.“ | |
## Sinn für Gerechtigkeit | |
Sharps Eltern waren nicht religiös oder gar orthodox. Sein Vater wurde 1921 | |
in Cleveland geboren, nachdem die Familie 1905 vor den Pogromen gegen Juden | |
in der Region um die ukrainische Stadt Odessa in die USA geflüchtet war. | |
Die Familie von Sharps Mutter war 1917 vor Pogromen in der gleichen Gegend | |
über Berlin nach Frankreich geflüchtet, wo sie zur Welt kam. | |
Ihr Vater wurde nach der deutschen Besetzung Frankreichs im französischen | |
„Sammellager“ Drancy gefangen gehalten und im Januar 1945 in das | |
Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sharps Mutter wurde, gemeinsam mit | |
ihrer, von französischen Bauern in der Nähe von Pont-à-Mousson in | |
Lothringen versteckt, auch ihre drei Geschwister überlebten so den | |
Holocaust. | |
„Sie sprachen über ihre Erlebnisse, wann immer sie sich trafen“, erinnert | |
sich Sharp. „Mein Großvater hatte die KZ-Nummer auf den Arm tätowiert. Der | |
Gedanke, immer eine Fluchtmöglichkeit zu haben, wenn die Verhältnisse | |
bedrohlich werden, wie bei Bushs Irak-Invasion 2003 beispielsweise, | |
begleitet mich seit jeher. Und ein gesteigertes Beschützerverhalten. Mein | |
ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit hat ebenfalls mit meiner Herkunft zu | |
tun.“ | |
Aus diesem Grund sympathisierte Sharp bereits als Jugendlicher in den | |
sechziger Jahren mit dem Civil Rights Movement. Aus dem gleichen Grund | |
wendete er sich von der Anfang der Neunziger vom Avantgardemusiker und | |
Komponisten John Zorn ausgerufenen „Radical Jewish Culture“, wieder ab. | |
## Reaktionärer Zionismus | |
Auf Zorns Label Tzadik, benannt nach der Figur des Wundertätigen mit | |
übermenschlichen Fähigkeiten in der jüdischen Tradition, hatte Sharp einige | |
Alben veröffentlicht. „Ich machte ein Stück namens ’Intifada‘ und bekam | |
Morddrohungen. Spätestens da erkannte ich, dass die Bewegung der ’radikalen | |
jüdischen Kultur‘ nur ein anderer Ausdruck für reaktionären Zionismus | |
bedeutete. Ich wollte kein Teil davon sein.“ | |
In „Substance“ werden Texte in einer Reihe von Sprachen erklingen. Neben | |
Englisch, Portugiesisch, Latein, Spanisch, Italienisch und Französisch auch | |
Ladino, das Judenspanisch der Sepharden. | |
„Wahrscheinlich wird Spinoza auf Niederländisch sprechen und auf Ladino | |
singen“, verrät Sharp. „Beim mehrstimmigen sephardischen Gesang entstehen | |
viele wunderschöne Effekte, wenn sich die nahen Töne verzahnen. Die anderen | |
Sprachen geben dem Ganzen eine Würze, die den Hörern die Annehmlichkeit | |
nimmt, immer um jede Bedeutung zu wissen.“ | |
Wenn Sharp daheim in der Lower East Side das Jiddisch, das seine Eltern | |
sprachen, hören und nebenbei köstlichen Kuchen und Brot erstehen möchte, | |
geht er zur koscheren Bäckerei in seiner Nachbarschaft. „Die Gespräche dort | |
laufen ab wie in einem Comic von Harvey Pekar – sehr komisch und ironisch, | |
mitunter boshaft. Einer der Mitarbeiter ist auch Kantor und singt die | |
jüdischen religiösen Lieder Niggun. Wir unterhalten uns gut über Musik.“ Es | |
sind eben nicht nur Gegenstände, die wie von selbst zu Elliott Sharp | |
finden, es sind auch die Laute. | |
17 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Franziska Buhre | |
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