# taz.de -- Vollmer über Umgang mit der Krise: „Eine Chance für die Grieche… | |
> Schuldenschnitt, weniger Häme, Reparationen differenziert betrachten – | |
> das fordert die Ex-Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). | |
Bild: Antje Vollmer: „Deutschland hat nicht das Mandat, der Zuchtmeister ganz… | |
taz: Frau Vollmer, die neue griechische Regierung fordert Entschädigung für | |
die Verbrechen der NS-Besatzung. Halten Sie das für gerechtfertigt? | |
Antje Vollmer: Die Sache hat ja dreierlei Aspekte. Das eine ist die | |
Zwangsanleihe in Höhe von 476 Millionen Reichsmark. Wenn man darüber nicht | |
redet, fordert man faktisch einen Schuldenschnitt für die deutsche Seite. | |
Das zweite sind die Massaker, die es an einzelnen Orten gegeben hat. Da | |
wäre über eine Regelung für die betroffenen Opfer nachzudenken. Das dritte | |
und kritischste ist die Frage der Reparation oder der Besatzungskosten. Da | |
muss man ein bisschen in die Geschichte einsteigen, um zu verstehen, warum | |
die griechische Seite darüber reden will, die deutsche aber auf gar keinen | |
Fall. | |
Die Reaktionen aus dem schwarz-roten Regierungslager fallen gereizt aus. Da | |
ist die Rede von einem „billigen Ablenkungsmanöver“. Laut | |
Unionsfraktionschef Kauder sollten sich die Griechen „mal mit ihrer | |
Hausaufgabe beschäftigen und nicht immer woanders Schuldige suchen“. | |
Es sind ja noch härtere Worte gefallen. Am schlimmsten empfinde ich die | |
Formulierung: „Man soll doch nicht in die Hand beißen, die einen füttert“. | |
Da werden faktisch die Griechen mit Hunden verglichen. Da ist einiges in | |
der Tonlage entglitten. Das zugrunde liegende Problem kann man nur | |
historisch begreifen: Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg keinerlei | |
Friedensvertrag geschlossen. Im Gegensatz zum Ende des Ersten Weltkriegs, | |
wo es mit dem Versailler Vertrag enorme Reparationslasten gegeben hat, die | |
wir bis vor wenigen Jahren abzahlen mussten. Dieser Druck war ein Nährboden | |
für die Schwäche der Weimarer Republik und die damalige rechtsradikale | |
Stimmung. | |
Als Konsequenz daraus hat man bei der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 | |
gesagt, die Frage der Reparationen schieben wir jetzt erst mal hinaus. Ein | |
Friedensvertrag soll erst geschlossen werden, wenn Deutschland souverän | |
ist. Damit hatten die Deutschen, gekoppelt mit dem Marshallplan, die | |
Möglichkeit, ihr Wirtschaftswunder unbeeinträchtigt von solchen massiven | |
Reparationszahlungen zu gestalten. Dann kommt als nächster Schritt der | |
Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990. An den Verhandlungen waren nur die vier | |
Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich beteiligt, die | |
anderen betroffenen Staaten nicht. Denen wurde dann verordnet, zu | |
akzeptieren, dass jetzt alle Fragen geklärt wären. Ich halte das für einen | |
Geniestreich der deutschen Außenpolitik, allerdings ausschließlich im | |
eigenen Interesse. | |
Dann ist die Frage der Reparationen also doch „ausgestanden“, wie es Kauder | |
formuliert hat? | |
1995 hat die griechische Regierung in einer Verbalnote gesagt, sie sehe | |
noch Fragen offen. Aber ihr wurde geantwortet: Pech gehabt, ihr habt nicht | |
rechtzeitig protestiert. Da entsteht ein Gerechtigkeitsproblem. Auf das | |
reagieren die deutschen Politiker und ein Teil der Medien jetzt mit | |
äußerster Aggressivität, weil sie fürchten, wenn man diese Frage aufmacht, | |
dann kommen auch alle anderen Länder. Das ist der wahre Hintergrund der | |
Aggressivität, mit der diese Frage behandelt wird. | |
Der CSU-Politiker Peter Ramsauer, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses, | |
kritisiert, durch solche Diskussionen würde „ein unkontrollierbares Fass an | |
Unfrieden aufgemacht“. Mit Positionen, wie Sie sie vertreten, machten Sie | |
sich zum „Büttel revisionistischer Gedankenspiele“. | |
Offene politische Fragen erledigen sich nicht dadurch, dass man die Frager | |
beschuldigt. Man hat ja selbst einen Präzedenzfall geschaffen: Ich habe | |
mich seit den 80er Jahren mit der Zwangsarbeiterentschädigung befasst. Da | |
wurde auch immer gesagt: Bitte nicht an diese Frage rühren, das wird teuer. | |
Im Jahre 2000 gab es dann heftige Angriffe gegen deutsche Konzerne in den | |
USA, einen gewaltigen Druck der amerikanischen Regierung und sehr potente | |
amerikanische Anwälte. Das führte zu dem Zwangsarbeiterfonds in Höhe von 10 | |
Milliarden. Das heißt: Es geht doch noch etwas, wenn der entsprechende | |
politische Druck dahinter steht. Den haben die Griechen natürlich nicht. | |
Die griechische Verbalnote stammt, Sie haben es erwähnt, aus dem Jahr 1995. | |
Drei Jahre später kam die von Ihnen unterstützte rot-grüne Bundesregierung | |
ins Amt. Die hätte da doch ein Zeichen setzen können. Stattdessen vertrat | |
sie die gleiche Position wie die derzeitige Regierung: Der Fall ist | |
erledigt. | |
Ja, die Kritik akzeptiere ich. Damals waren alle sehr optimistisch in Bezug | |
auf eine solidarische Zukunft in Europa, die ist in der Finanzkrise schwer | |
erschüttert worden. | |
Außenminister Frank-Walter Steinmeier bezeichnet es als „politisch | |
gefährlich, das Thema gerade jetzt hochzuziehen". Ist es nicht ein Fehler | |
der Regierung in Athen, die Schrecken der Vergangenheit in einen so engen | |
Zusammenhang mit der griechischen Finanzkrise zu bringen? | |
Ich bin darüber auch nicht glücklich. Aber wenn man eine Regierung in eine | |
Lage bringt, in der sie praktisch keinen Ausweg mehr hat, muss man sich | |
nicht wundern, wenn die nach einem historischen Strohhalm greift. Ich | |
verstehe durchaus das Argument, wir müssen doch das neue Europa friedlich | |
und nicht mit alten Bleilasten gestalten. Aber das hat auch für den fairen | |
Umgang mit den Griechen zu gelten. Stattdessen wird die jetzige Regierung, | |
die demokratisch gewählt und erst zwei Monate im Amt ist, zum Sündenbock | |
einer völlig verfehlten Finanz- und Bankenrettungspolitik gemacht und | |
ständig anmoralisiert, sie sei der peinlichste Versager Europas. | |
Das heißt, die Deutschen sollten einfach ein bisschen netter im Umgang | |
sein? | |
Alle Seiten müssen zu einer vernünftigen, friedensorientierten und | |
respektvollen Lösung zurückkommen. Deutschland hat nicht das Mandat, der | |
Zuchtmeister ganz Europas zu sein, zumal wir in der Vergangenheit erstens | |
auch gelegentlich gegen europäische Regeln verstoßen haben, zweitens ein | |
sensationelles historisches Glück gehabt haben und drittens im Augenblick | |
in einer außerordentlich günstigen Lage sind. Alle Insider wissen doch, | |
dass man vor ein paar Jahren mit einem Schuldenschnitt und einer Art | |
Marshallplan den Griechen sehr viel mehr geholfen hätte als mit einem | |
zusätzlichen Rettungsschirm, der ja in Wahrheit nicht die Griechen, sondern | |
die deutschen und französischen Banken gerettet hat. Es wäre höchste Zeit, | |
wenigstens jetzt neu über Fragen eines Schuldenschnitts nachzudenken, damit | |
die Griechen überhaupt eine Chance haben, wenn man sie denn im Euroraum | |
halten will. | |
Am Montag trifft sich Merkel mit Tsipras in Berlin. Was erwarten Sie von | |
dem Gespräch? | |
Wenn sie klug ist, wird sie in der Frage des Umgangs mit den Griechen den | |
Ton sehr mäßigen und nach Auswegen suchen. Mit der Methode der schwarzen | |
Pädagogik produziert man nur Trotz, Feindbilder und verbrannte Erde. Das | |
ist doch keine Politik, das erzeugt europäische Unordnung. Wenn man Lehren | |
aus der Weimarer Zeit ziehen will, dann darf man ganze Völker nicht in eine | |
solche katastrophale Lage laufen lassen, dass nur noch die rechten | |
Rattenfänger davon profitieren. Ich habe manchmal den Eindruck, man | |
behandelt die Griechen jetzt ganz besonders hämisch, weil es sich um eine | |
linke Regierung handelt. Damit soll wohl ein abschreckendes Exempel | |
statuiert werden, damit nicht im Herbst auch noch die Spanier in diese | |
Richtung zu gehen. | |
19 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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